Kapitel 7
Jorell steht im blauen Zwielicht der Dämmerung, die Hemdsärmel hochgekrempelt, die Unterarme vom letzten Licht des Tages golden schimmernd. Er starrt auf einen alten Liebesbrief, dessen Tinte vom Alter verwischt ist, die Stirn in ungläubigem Faltenwurf. Sein sonst so angespannter Kiefer ist jetzt entspannt. Der Schatten eines längst verlorenen Herzschmerzes flackert über sein schönes, erschöpftes Gesicht. Selene steht im Türrahmen, ihre Hände drehen nervös am Saum ihres indigoblauen Kleides – sie hat geweint, die Augen gerötet, die Lippen zittern vor Hoffnung oder Angst. Sie wartet darauf, dass er spricht, sie ansieht, sie mit dem nächsten Wort zerbricht oder rettet.
Jorells Atem stockt. „Alles steht hier,“ sagt er, die Stimme tief und rau. „Jedes Geheimnis.“ Sein Blick findet endlich Selene, und der Schmerz, der zwischen ihnen liegt, ist fast greifbar. Selene tritt näher, so nah, dass der Rocksaum ihres Kleides Jorells Oberschenkel streift. Sie sucht sein Gesicht, die Muskeln in ihrem Kiefer zucken, als kämpfte sie dagegen an, zu zerbrechen. „Ich weiß, wie es sich anfühlt, den falschen Menschen zu wählen und zuzusehen, wie alles zerbricht,“ flüstert sie, kaum mehr als ein Geständnis. „Aber ich werde nicht vor dir weglaufen – nicht jetzt.“
Ein langes, raues Schweigen. Jorells Finger zucken an seiner Seite. Er will sie greifen, doch er hat Angst davor, sich überhaupt etwas zu wünschen.
Im Flur schreitet Vyra über den Marmorboden, in schulterbetontem Mitternachtsvelours. Ihr Haar – glatt und sorgfältig zurückgestrichen – wirkt fast wie eine Rüstung, doch heute Abend sind ihre Augen geschwollen, das Make-up verwischt. Sie sucht Zuflucht im Dachgarten, die High Heels irgendwo zurückgelassen, barfuß auf dem kalten Stein. Sie umarmt sich selbst, die Haltung starr, kämpft gegen den Drang zu schluchzen. Tomas findet sie dort. Zuerst lacht er leise, die Hände in den Taschen seiner viel zu großen Anzugjacke vergraben, doch das Lachen verstummt, als er ihr Gesicht sieht. Er hockt sich neben sie, seine Berührung federleicht auf ihrer Schulter.
„Vyra,“ murmelt er, „du musst nicht für die stark bleiben, die dich schon enttäuscht haben.“ Die Worte lösen etwas in ihr. Sie vergräbt ihr Gesicht in zitternden Händen, die Schultern beben, die Wimpern schwer von Tränen. „Es ist alles umsonst, Tomas,“ keucht sie. „Alles, was ich getan habe, jede Lüge... und er will mich trotzdem nicht.“
Jorell sieht Selene an, erkennt die Verletzlichkeit, die in ihren Augen schimmert. Sie trägt Hoffnung wie einen blauen Fleck, und er will an sie glauben. Sie tritt wieder vor – Herzschläge flattern in ihrem Hals – und sagt, zum ersten Mal mit fester Stimme: „Ich will, dass du die ganze Wahrheit kennst. Ich will, dass wir das richtig machen.“ Ihre Hand findet seine, die Finger zittern, langsam und suchend. Seine Finger schließen sich zögernd um ihre, doch die Berührung entfacht etwas Lebendiges. Seine andere Hand hebt sich, um ihre Wange zu umfassen, der Daumen streicht die Salzkristalle von ihrer Haut.
Im Garten verlangsamen sich Vyras Tränen. Tomas lehnt seinen Kopf an ihren, seine eigenen Augen feucht. „Du bist wichtig, Vyra. Auch wenn du nicht gewinnst.“ Sie lacht, brüchig und klein, lehnt sich aber in seine Wärme. „Ich weiß nicht mal mehr, wer ich bin, wenn ich nicht hier bin,“ haucht sie. „Vielleicht muss ich das erst herausfinden.“ Tomas drückt ihre Hand, sein eigenes Verlangen tief und still verborgen.
Zurück in der Bibliothek stehen Jorell und Selene nur Zentimeter voneinander entfernt. Jeder Muskel in Jorells Körper ist angespannt. „Du hast mich kaputt gemacht,“ sagt er, doch seine Stimme ist sanft, die Stirn an ihre gedrückt. „Aber du bist die Einzige, die mich je wirklich gesehen hat.“ Selenes Augen schließen sich, die Wimpern zittern, die Brust hebt sich, während sie es wagt zu hoffen. Er küsst sie – nicht aus Verlangen, sondern mit etwas Sanfterem, Verzweifeltem, das um Vergebung bittet.
Dann hallen Schritte im Flur. Vyra steht im Türrahmen, ihre Silhouette scharf vom Mondlicht gezeichnet. In ihren Augen liegt etwas Wildes, Rücksichtsloses, als sie von Jorell zu Selene blickt. Sie wirft einen gefalteten Scheck auf den Schreibtisch – Selene erkennt die Summe sofort. Die Schulden ihrer Familie sind beglichen. „Bedank dich nicht bei mir,“ sagt Vyra, die Stimme scharf und brüchig. „Es war nicht für dich. Es ist Zeit, dass ich gehe.“
Niemand rührt sich. Das einzige Geräusch ist Selenes ersticktes Keuchen. Vyras Blick verweilt ein letztes Mal auf Jorell – ihre Maske fällt, Schmerz zeichnet jede Linie ihres Gesichts tief nach. Dann dreht sie sich um und geht davon, barfuß und zitternd, hinaus aus Linvale.
Jorell flüstert: „Was passiert jetzt?“
Doch bevor Selene antworten kann, schrillt der Alarm – die Stille zerreißend. Rote Blitze flackern, tauchen ihre Gesichter in Warnlicht. Tomas stürmt herein, außer Atem, Panik in den Augen. „Jemand ist ins Westflügel eingebrochen. Und – jemand ist noch drin.“
Fortsetzung folgt...