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Kapitel 8

Selenes Hände zitterten, als sie den Umschlag umklammerte, die Last der Vergangenheit drückte schwer in ihre Handflächen. Sie lehnte sich gegen die kühle Steinwand der Bibliothek, ihr Spiegelbild verschwamm in einer Vitrine voller Porzellanmasken – ihr eigenes Gesicht blass, der Mund offen vor Unglauben. Sie konnte sich kaum erinnern, wie sie all die Treppen hinaufgestiegen war, ihr Geist zerstreut, das Herz hämmerte, während sie zum letzten Mal die anonyme Bankbestätigung las. Vyras scharfe Handschrift bestätigte nur, was sie längst in den Knochen spürte: Die Schuld war getilgt. Die Freiheit war da, errungen durch Opfer, fast zu schwer, um sie zu tragen.

Sie legte die Fingerspitzen an die Lippen, kämpfte gegen die Tränen an. Ihr Haar war heute Abend offen – dunkle Wellen fielen über den Rücken ihres schlichten schwarzen Kleides. Losgelöst glitt sie zwischen den Regalen umher, die Füße lautlos auf dem abgenutzten Holz, als hielten die Bücher selbst den Atem an, warteten.

Die Bibliothekstür klickte auf. Jorell trat ein, das Haar vom Regen noch feucht, das Hemd klebte an seinen Schultern, der Anzug halb zugeknöpft und schief. Seine Augen fanden sie sofort, Sorge zeichnete sich zwischen den Brauen ab, die Haltung angespannt wie eine gespannte Feder. Er blieb stehen, die Hände krallten sich an den Seiten, als könnte er zerbrechen, wenn er sich zu schnell bewegte.

Sie drehte sich um, die Augen weit und feucht, die Brust hob sich in flachen, verzweifelten Atemzügen. „Es ist vorbei. Die Schuld – Vyra… sie hat es geschafft. Ich dachte, du wärst es.“

Jorells Schultern sanken, Erleichterung flackerte durch die Anspannung. „Ich wollte es. Aber Vyra… sie ist mutiger als wir beide.“ Seine Stimme brach, roh und offen. Langsam, vorsichtig schritt er auf sie zu, suchte in ihrem Gesicht nach Lügen, nach Hoffnung oder einer neuen, zerbrechlichen Wahrheit.

Selenes Wimpern zuckten, ihr Blick schmerzte vor Entschuldigung und Verlangen. „Es tut mir leid, was ich getan habe. Für alles. Ich wollte nie—“ Ihre Stimme versagte, und sie schlang die Arme um sich selbst, als könnte sie ihre Scham festhalten, um nicht auseinanderzufallen.

Er streckte die Hand aus, zögerte nur einen Moment, bevor seine Fingerspitzen die Linie ihres Kiefers nachzeichneten. „Hör auf. Ich will kein Perfekt. Ich weiß nicht mal, ob ich Vergebung will. Ich will dich. Chaotisch. Verängstigt. Echt.“

Sie trat an ihn heran, ihre Körper fanden sich instinktiv, nicht durch Nachdenken. Seine Hände verhedderten sich in ihrem Haar, zogen sie nah, bis ihr Atem seine Lippen wärmte. Ihre Nägel gruben sich halbmondförmig in seinen Rücken, verzweifelt, geerdet im Hier und Jetzt, nicht in den Geistern der letzten Woche. Die Welt fiel weg – ein Flüstern, ein Puls, das sanfte Gleiten ihres Kleides unter seinen Händen. Sie küsste ihn, offen, der Geschmack von Salz, Regen und altem Schmerz auf ihren Zungen.

Er drückte sie zurück an die Regale, Bücher flüsterten an den Rückenlehnen, während sie nachgaben. Seine Jacke sammelte sich zu ihren Füßen. Sie wölbte sich gegen ihn, die Finger zeichneten die Narben auf seinen Armen nach, ihre Berührung vergab Dinge, die er nie laut ausgesprochen hatte. Für einen Moment gab es nichts als das Geräusch von Atem und die fiebrige, stockende Art, wie seine Lippen ihre Haut erkundeten – Schlüsselbein, Hals, Wangen, die unter seinem Mund aufblühten.

Sie hauchte seinen Namen, das Verlangen drehte sich zur Begierde, doch er verlangsamte, umfasste ihr Gesicht. Sein Blick flackerte vor Angst. „Wenn wir das tun, gibt es kein Zurück mehr.“

„Du glaubst, ich will zurück?“ Ihr Lachen war feucht und brüchig, voller Hoffnung und Hingabe. „Ich will dich. Ganz.“

Ihre Körper stießen zusammen, langsam und verzweifelt auf den verstreuten Kissen unter dem hohen, gewölbten Fenster. Mondlicht zeichnete ihre nackte Schulter nach, der Seidenstoff ihres Kleides glitt davon. Jorells Hände zitterten, als er sie berührte, jede Bewegung vorsichtig, ehrfürchtig, als könnte sie verschwinden. Ihr Herzschlag donnerte unter seinen Lippen, jedes Zögern schmolz zu Hunger – leises Stöhnen, geflüsterte Entschuldigungen, Versprechen, nie wieder zu fliehen.

Sie verloren sich ineinander, halb bekleidet, halb träumend, fiebrige Haut eng aneinander gepresst, entdeckten eine Sprache neu, die nur sie beide sprechen konnten. Jeder Seufzer war ein Geständnis, jeder Kuss ein Neubeginn, ihre Körper überschrieben alten Schmerz mit etwas Überraschendem und Zerbrechlichem.

Danach schmiegte sich Selene an ihn, die Wange an seine Brust gepresst, das langsame Pochen seines Herzens gab ihr Halt. Jorell zeichnete ziellose Muster auf ihre Schulter, die Augen feucht, der Mund leicht geöffnet vor Staunen, die jugendliche Angst wich endlich.

„Ich habe Angst“, flüsterte sie. Er lächelte, seine Wimpern warfen Schatten, und küsste die Spitze ihres Kopfes. „Ich auch. Aber ich glaube, wir dürfen entscheiden, was als Nächstes kommt.“

Sie lagen zusammen, während die Morgendämmerung die Fenster bläute, die Stille der Bibliothek hüllte sie ein. Irgendwo weit unten schloss sich eine Tür – ein leises Echo. Vyra ging weg von Linvale, den Mantel fest gegen die Morgenkälte gezogen, der Schritt sicher, das Kinn erhoben, die Augen brannten vor Verlust und etwas, das wie Hoffnung war.

Selene atmete den Duft von altem Papier, Regen und Jorells Haut ein, ihre Finger verschlungen mit seinen. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich leicht. Die Zukunft schimmerte – ungewiss, unvollendet, aber endlich, leidenschaftlich ihr.

Porzellanadern

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Porzellanadern: Fesselnde Liebesgeschichte lesen