Kapitel 6
Jorells Spiegelbild flackerte im Glaskabinett, sein Kiefer angespannt, die Augen gerötet – unrasiert, Hemd halb geöffnet, Krawatte irgendwo zwischen seinem Büro und der Verzweiflung zurückgelassen. Mit zitternder Hand fuhr er sich durch das dunkle, wirre Haar, die Atemzüge flach, während der Schmerz in seiner Brust alles überlagerte. Selenes Geständnis hallte noch immer scharf wie zerbrochenes Porzellan in seinen Ohren: „Ich habe dich belogen. Man hat mich hierher geschickt. Ich habe versucht aufzuhören, ich schwöre… aber du –“ Der Rest verlor sich in Schluchzern.
Er erinnerte sich an ihr Gesicht: verschmierte Mascara, Lippen halb geöffnet in einer stummen Entschuldigung, zitternd, als sie nach ihm griff, verzweifelt, die Distanz auszulöschen. Er war zurückgewichen. Jetzt brannte selbst die Erinnerung.
Jorell schritt den Flur auf und ab, die Fäuste an den Seiten geballt. Seine Bewegungen waren angespannt, der Körper spannte sich gegen die Gewalt des Herzschmerzes – ein Mann, der sonst immer die Kontrolle hatte, jetzt am Zerreißen. Er konnte den Verrat nicht ausatmen. Konnte nicht aufhören, jede Berührung, jedes Versprechen immer wieder abzuspielen, sich fragend, was echt war und was Manipulation.
Selene fand ihn im Personalflügel, die Hände verkrampft am Saum ihres Cardigans. Ihre Augen waren weit aufgerissen, zerstört von Trauer. Sie trug ein schlichtes blaues Kleid, das sie herzzerreißend jung wirken ließ, zerbrechlich wie das Porzellan, das sie an diesem Morgen in der Bibliothek abgestaubt hatte. „Es tut mir leid“, flüsterte sie, die Stimme brüchig. „Ich wollte nie –“
Er schloss die Augen, die Stimme rau und tief. „All diese Nächte. Warst du jemals ehrlich?“
Selenes Hände flatterten hilflos. „Ehrlicher als je zuvor. Genau das macht mir Angst.“
Für einen Moment wankte alles – ihr Verlangen, in seine Arme zu fliehen, kämpfte gegen sein Bedürfnis, sie wegzustoßen. Er trat zurück, Schmerz zuckte über sein schattiges Gesicht. „Du hast mich zerbrochen“, sagte er, jedes Wort ein Schnitt.
Sie ging dann, die Schultern bebten, Tränen glitten lautlos über ihre Wangen, während sie den Flur hinunter verschwand.
Jorell taumelte in sein Büro, die Knöchel weiß vor Anspannung, der Körper vibrierte vor Wut und Verlangen. Er bemerkte Vyra erst, als sie sprach – ihre Stimme weich, doch scharf unterlegt. „Sie hat es dir gesagt, nicht wahr?“ Vyra stand am Fenster, die Arme verschränkt, der Mund zu einer straffen Linie gepresst. Ihr Anzug war makellos, der Lippenstift blutrot, doch ihre Augen waren von Erschöpfung und etwas Hungrigem umrandet.
„Ich bin nicht in der Stimmung, Vyra.“ Seine Worte klangen brüchig.
Ihr Blick wich nicht. Sie trat zu ihm, mit einer katzenhaften Eleganz, die Hand streifte die Kante seines Schreibtischs. „Du musst dich vor mir nicht verstellen. Das hast du nie.“ Sie strich mit den Fingern über sein Handgelenk, der Puls pochte unter seiner Haut.
Er wollte ihr sagen, sie solle gehen. Er wollte schreien – doch alles, was herauskam, war ein zerbrochener Laut, irgendwo zwischen Lachen und Schluchzen. Vyra rückte näher, ihr Atem warm an seinem Hals, die Arme schlangen sich um seine Taille. Sie küsste ihn – hart, verzweifelt – die Nägel gruben sich in seinen Rücken, während er nachgab, Lippen prallten aufeinander, getrieben von drängendem Verlangen. Ihre Körper stießen zusammen, suchten Trost, rieben Schmerz und Scham mit jeder hastigen Bewegung weg.
Vyras Mund zog seine Kehle nach, ihr Haar fiel wie ein glänzender Vorhang, der nach Sandelholz und Gefahr roch. Jorells Hände waren rau, gierig; das war keine Liebe, kein Trost, sondern ein Verlangen nach Vergessen. Ihre Jacke glitt zu Boden. Die Kleidung folgte, schälte Haut und Hemmungen ab, ließ nur rohes, schmerzendes Fleisch zurück. Vyra keuchte, verschlang seinen Kummer, biss sich in seine Schulter, als sie in seinem Stuhl zusammenbrachen, Glieder verheddert, alle Grenzen ausgelöscht.
Danach legte Jorell die Stirn an ihre, die Augen fest geschlossen. Für einen Moment sprach keiner – nur das Geräusch unregelmäßigen Atmens und das ferne Summen der Nacht hinter den steinernen Mauern. Vyras Fingerspitzen zitterten an seinem Kiefer, suchten nach Zärtlichkeit, die sie sich längst abgewöhnt hatte. Er zog sich als Erster zurück, Reue legte sich wie ein Fluch zwischen sie.
„Es tut mir leid“, murmelte er, die Stimme hohl.
Vyra richtete sich auf, sammelte sich. „Wir versuchen beide nur, nicht zu ertrinken“, sagte sie, strich sich durch die Haare, die Augen kalt vor einer Art Resignation. „Aber du denkst immer noch an sie.“
Jorell antwortete nicht. Als er aufsah, war Vyra verschwunden.
Er sackte an seinem Schreibtisch zusammen, der Magen leer. Sein Blick fiel auf einen gefalteten Brief, der unter einem alten Buchhaltungsheft lag, das Papier vergilbt und weich. Er erkannte Selenes Handschrift.
Seine Hände zitterten, als er ihn öffnete und las: „Linvale bindet die, die aus Liebe lügen, immer wieder, für immer.“ Die Worte verschwammen in Tränen, die er nicht vergießen wollte.
Irgendwo den Flur entlang hallten Schritte, dringend und fremd. Ein Schatten trat durch die Tür – Maura, die Verwalterin des Anwesens, das Gesicht bleich, etwas in ihrer geballten Faust haltend.
„Jorell“, flüsterte sie, „du musst das sehen. Es verändert alles.“
Fortsetzung folgt...