Kapitel 4
Selene legte ihren Finger auf einen schmalen Pergamentstreifen, dessen brüchige Ränder im stillen Gewölbe der Bibliothek zitterten. Ihr Haar war heute Abend offen, streifte den Kragen ihrer verblasst blauen Bluse – ein Ton, der die fiebrige Sorge in ihren Augen milderte. Die Stille fühlte sich eng an, zog sich wie ein Band zwischen ihren Rippen zusammen. Sie las die geschwungenen Buchstaben erneut: „Die Geschichte wiederholt sich, wenn niemand wagt, das Glas zu zerbrechen.“ Selene fröstelte innerlich. Zum ersten Mal dachte sie daran, dass der hohle Schmerz des Herrenhauses vielleicht nicht nur ihr gehörte.
Ein schwerer Schritt riss sie aus ihren Gedanken. Jorell blieb im Türrahmen stehen, makellos in seiner Jacke, die scharfe Linie seines Kiefers angespannt vor Konzentration. Seine Hand umklammerte einen silbernen Schlüsselbund, die Knöchel weiß vor Anspannung, seine Augen huschten über sie hinweg – vorsichtig, sehnsüchtig, ruhelos. Er versuchte es lässig: „Nach Feierabend solltest du hier nicht sein.“ Die Worte klangen brüchig, verrieten seinen Drang, alles in Regeln zu fassen, selbst wenn die Begierde drohte, ihn zu zerreißen. Selene schloss den Brief und steckte ihn in ihre Tasche. Ihre Lippen öffneten sich, als wollte sie alles anvertrauen – die Schulden, die Ängste, dieses neueste Geheimnis – doch es blieb bei einem angespannten, schuldbewussten Lächeln.
Sie beobachtete, wie er zu seinen Katalogen zurückkehrte, die Haltung steif wie die eines Soldaten, die Reihen seiner Knöpfe fingen das Lampenlicht ein. In ihr regte sich das alte Verlangen: hineingelassen zu werden, zu sehen, wer er unter all der brüchigen Perfektion wirklich war. Sie wandte sich ab, ihr Herz schlug schneller, und sie rang um ruhigen Atem.
Auf dem Marmortreppenabsatz darüber verweilte Vyra, gehüllt in ein weinrotes Kleid, die Lippen glänzend und leicht geöffnet zu einem geübten Lächeln. Sie beobachtete Jorell unten, ihre Augen scharf wie geschliffenes Glas. Als sie hinabstieg, trafen ihre Absätze mit entschlossener Sicherheit auf den Steinboden. Sie strich an Selene vorbei, ihr Parfum scharf und berauschend, ihre Berührung federleicht, aber abweisend. „Pass auf, Liebling. Manche Dinge, die du hier findest, kannst du nie wieder zurücklegen“, flüsterte Vyra. Selene erstarrte, ihr Puls raste, während Vyra davon glitt, jede Bewegung eine Herausforderung.
Später, im schummrigen Aufenthaltsraum des Personals, setzte sich Vyra neben Tomas, dessen Wachuniform am Kragen geöffnet war, ein leichtes Grinsen auf den Lippen. Sie ließ ihre Maske fallen, die Lippen zitterten, als sie gestand: „Er liebt sie. So hat er mich nie angesehen.“ Tomas’ Lachen verklang. Er griff nach ihrer Hand, doch sie zog sie zurück. „Vielleicht ist das auch meine Schuld“, murmelte Vyra, die Augen glänzten vor unvergossenen Tränen. Tomas versuchte sie zu trösten, doch Vyra ließ keine Freundlichkeit an sich heran.
Eine Stunde später fand Vyra ihr Ziel – einen reichen Spender mit zu glatten Händen und einem zu wissenden Grinsen. In einem samtverkleideten Flur schmiegte sie sich an ihn, ihr Kleid rutschte den Oberschenkel hinauf. Ihr Lachen klang brüchig, gespielt, während sie sich seinen Flüstereien hingab, die Finger krallten sich in sein Revers. Sie schauderte, als er ihren Hals küsste, doch ihre Augen blieben leer, verfolgt von allem, was er ihr niemals geben konnte. Sie ließ sich begehrt fühlen, gerade lang genug, um sich mächtig statt weggeworfen zu fühlen.
Unbemerkt von ihr blinkte das rote Auge einer Überwachungskamera in der Nähe – Tomas’ Gesicht spiegelte sich im Monitor, der Kiefer angespannt, ein Knoten aus Sorge unter seiner routinierten Gleichgültigkeit. Sein Finger schwebte über der Speichertaste, zerrissen zwischen Loyalität und dem Drang, Vyra vor sich selbst zu schützen.
Währenddessen kehrte Selene in die Bibliothek zurück, die Hände zitterten, als sie den Brief hielt. Sie fing ihr Spiegelbild in der Scheibe eines antiken Vitrinenschranks ein und erkannte sich kaum – das Verlangen in ihrem Blick, die Scham, die ihren Mund zusammenzog, die verletzte Hoffnung, die hinter der Angst lauerte. In diesem Moment begriff sie die zerbrechliche Grenze zwischen Verräterin und Verratener.
Als Mitternacht nahte, begegnete Vyra Selene im Flur, der Lippenstift verschmiert, ein Blick voller wilder Trotz in den Augen. Sie hielt inne, beugte sich vor, ihre Stimme ein seidenes Flüstern: „Brichst du eines, fängt alles andere an zu zerbrechen.“ In ihrem Lächeln lag eine Herausforderung – und noch etwas anderes: roher Schmerz, fast kindlich. Selene sah ihr nach, wie sie in der Dunkelheit verschwand, die Worte hallten nach, Furcht drehte sich in ihrem Magen.
Zurück im Sicherheitsbüro schloss Tomas den Laptop, das belastende Filmmaterial sicher verwahrt, aber nicht gelöscht. In den leeren Gängen flackerten Schatten, während unsichtbare Verrätereien Wurzeln schlugen.
Auf dem Anwesen lehnte Vyra an einem regennassen Fenster, den Kopf gesenkt. Die Fäuste gegen das Glas gepresst, zitterte die Spannung in ihren Schultern. Sie formte ein stummes Versprechen an sich selbst. Das hier war nicht das Ende. Sie würde einen Weg finden zu gewinnen – selbst wenn sie dafür alles zerbrechen musste.
Fortsetzung folgt...