Kapitel 6
Tavians Hände zitterten, während er das Abzeichen immer wieder in seiner Tasche hin und her drehte, halb versteckt im Neonlicht des Flurs. Sein weißes Hemd war zerknittert von einer schlaflosen Nacht, der Kragen leicht verrutscht, die Augen hinter den randlosen Brillengläsern von Angst überschattet. Er vermied den Blick der vorbeigehenden Kollegen, die Schultern nach vorn gezogen, wünschte sich, er könnte einfach unsichtbar werden.
Am Aufzug trat Lyska heran, ihr Haar ein wildes Halo, das aus dem Dutt entwich, der Kiefer angespannt vor unausgesprochener Wut. Ihre scharlachrote Jacke fehlte, stattdessen trug sie eine schwarze Seidenbluse, die sich eng an die scharfe Linie ihres Rückens schmiegte. Sie sah Tavian erst an, als sie allein waren und die Aufzugtüren sich schlossen. Dann entfuhr ihr ein bitteres Lachen, während sie mit zitternder Hand durch ihr Haar fuhr. „Hab gehört, sie kommen wegen dir,“ flüsterte sie, die Stimme brüchig zwischen Spott und Sorge. „Lass nicht zu, dass sie dich auffressen.“
Tavian zwang sich zu einem Lächeln, doch seine Mundwinkel zitterten. „Wäre nicht das erste Mal,“ murmelte er und starrte auf seine Schuhe, als könnte er sich so auslöschen. Sie wollte nach ihm greifen, die Distanz durchbrechen, doch die Wut hielt ihre Wirbelsäule starr.
Die Türen öffneten sich auf der Führungsetage. Roen wartete, die Arme verschränkt, die Jacke makellos, dunkler Stoppelbart zeichnete seinen Kiefer nach. Seine eisblauen Augen fixierten Tavian mit räuberischem Interesse. „Wir sollten reden, Mr. Frendell,“ sagte er mit täuschend ruhiger Stimme. Lyska sträubte sich, trat halb vor Tavian, ein Schutzreflex, den sie selbst nicht ganz verstand.
„Ich habe nichts zu sagen,“ stotterte Tavian, der Atem flach, doch Roen grinste nur. „Wir werden sehen.“ Er schob sich vorbei, seine Finger streiften Lyskas Handgelenk – eine Warnung, vielleicht eine Drohung.
Woanders saß Viessa auf einem Schreibtisch, der karierte Rock unter ihr gerafft, grinste, als Roen näherkam. Ihr Lachen sprudelte in schnellen, leisen Stößen, leicht, doch von nervöser Energie durchzogen. Als Roen sie näher rief, beugte sie sich vor, die Lippen streiften sein Ohr. „Du schuldest mir ein Abendessen für das, was ich gerade gefunden habe,“ flüsterte sie, ihr Knie stieß gegen seinen Oberschenkel. Sein Mund verzog sich anerkennend, doch sein Blick wanderte zurück zum gläsernen Konferenzraum, wo Tavian und Lyska warteten, die Spannung wuchs.
Im Raum betrat Aelira die Szene – groß, in jeder Hinsicht gefasst, der Nadelstreifenanzug makellos. Ihre Augen, kühl und prüfend, wanderten von Tavian nervösem Zupfen zu Lyskas geballten Fäusten. „Dersh hat mehr inszeniert, als ihr denkt,“ sagte sie leise und schob einen Ordner über den Tisch. „Ihr sucht an den falschen Stellen.“
Lyskas Hände schwebten über dem Ordner, dann riss sie ihn mit einem zitternden Atemzug auf. Beweise. Tavians Name verknüpft mit der alten Sicherheitslücke – Dershs Fingerabdrücke überall. Tavians Kinn bebte, seine Stimme rau. „Die ganze Zeit – wusstest du das?“ Seine Augen suchten Aeliras Gesicht, suchten Trost, Schuld, irgendwas.
Aeliras Züge wurden weicher, die professionelle Maske fiel. „Ich habe dich beschützt. Ich dachte, ich könnte es richten. Ich lag falsch.“ Ihre Finger streiften Tavians, verweilten länger als nötig, eine stumme Entschuldigung schwebte in der geladenen Luft. Lyska, die Brust hob und senkte sich heftig, beobachtete sie – Schmerz und Eifersucht brannten in ihrem Gesicht.
„Du hast mich verrotten lassen,“ flüsterte Tavian zu Aelira, die Stimme brach, und Lyskas Hand fand seine unter dem Tisch, drückte fest. Er drückte zurück, Verzweiflung floss zwischen schwitzenden Handflächen.
Die Tür flog auf – Dersh. Strotzte vor Arroganz, Krawatte lose, die Augen funkelten vor kalter Freude. „Schönes Wiedersehen. Schade, dass es nicht lange hält.“ Er legte einen USB-Stick auf den Tisch, das Grinsen ein tiefer Schnitt. „Alles, was ihr getan habt, jede Verfehlung – hier drauf. Spiel mein Spiel, oder sieh zu, wie deine kleinen Geheimnisse verbrennen.“
Aelira stand auf, das Gesicht bleich, der Kiefer arbeitete. „Du bist am Ende, Dersh.“ Sie stellte sich ihm entgegen, nur Zentimeter entfernt, keiner blinzelte. „Du hast diese Lüge gebaut. Du wirst sie auslöffeln.“
Seine Lippe verzog sich. „Ihr seid alle verzichtbar.“ Er stürmte vor, die Stimme leise: „Tavian ist bis zum Ende des Tages weg. Lyska, du bist die Nächste.“ Dann stürmte er hinaus und ließ Stille zurück.
Tavians Brust zuckte vor Panik. Er drückte Lyskas Hand, bis die Knöchel weiß wurden. Lyska zog ihn an sich, küsste seine Stirn, Wut und Tränen mischten sich in ihren Augen. „Sie werden uns nicht brechen,“ flüsterte sie, die Stimme zitternd, obwohl auch ihr eigener Glaube wankte.
Doch die Sicherheit kam, angeführt von Roen, nun mit gelockerter Krawatte, die Augen verhärtet. „Mr. Frendell? Sie sind suspendiert. Bitte kommen Sie mit.“ Tavian taumelte auf die Füße, kämpfte gegen das Verlangen anzuflehen. Lyska klammerte sich bis zum letzten Moment an seine Hand, doch die Finger glitten los. Er drehte sich noch einmal um – gequält, verletzt, völlig verloren – bevor Roen ihn wegführte.
Aelira fing Lyska auf, als ihre Knie nachgaben, stumme Schluchzer erschütterten ihren Körper. Einen langen Moment blieben sie so verstrickt – Trauer und Wut, die sich zwischen ihnen sammelten.
Ein Vibrieren: Lyskas Handy. Aeliras Name blinkte auf dem Bildschirm, eine einzige Nachricht: „Es ist noch nicht vorbei. Triff mich heute Abend.“
Draußen hinter den gläsernen Wänden des Konferenzraums rauschte die Welt weiter, ahnungslos. Doch drinnen war alles zerbrochen.
Fortsetzung folgt...