Kapitel 5
Lyska straffte ihren Blazer, der Kiefer fest zusammengepresst, während sie den gläsernen Flur hinunterstürmte. Ihr Handy vibrierte unaufhörlich – wieder eine Nachricht von ihrer Mutter, irgendein neues Desaster zu Hause, das eigentlich ihr Problem sein sollte. Sie antwortete nicht. Die kühle Stahlatmosphäre der Chefetage fühlte sich sicherer an als ihre eigene Wohnung. Macht, erinnerte sie sich, war das einzige Gegenmittel gegen das Chaos.
Doch sie spürte Glasswells Blick auf sich, scharf wie Messer. Tavian traf ihren Blick kaum im offenen Großraumbüro, zusammengesunken vor seinem Monitor in diesem viel zu großen dunkelblauen Pullover, die Brille rutschte ihm von der Nase, die Finger zitterten gerade so viel, dass es auffiel. Als sie an ihm vorbeiging, streifte ihr sein Duft – Seife, Elektrizität und ein Hauch von etwas Süßem – über die Haut. Sie warf Viessa einen finsteren Blick zu, die schon halb flüsternd dastand, die Lippen zu einem wissenden Grinsen verzogen.
Lyska bohrte Tavian mit ihrem Blick an, dann nickte sie knapp: Folge mir. Seine Augen weiteten sich, unsicher, doch Sehnsucht und Angst kämpften in ihm, als er gehorchte und ihr in den leeren Konferenzraum folgte. Die Lichter der Stadt fluteten durch die riesigen Fenster, warfen geisterhafte Reflexe auf den polierten Tisch. Ihr Atem ging flach, als sie die Tür schloss, das Klicken hallte in der Stille nach.
Er stand unbeholfen am Kopfende des Tisches, die Hände tief in den Taschen vergraben, die Knöchel weiß vor Anspannung. „Ist alles—“ begann er, doch sie schnitt ihm das Wort ab, die Stimme rau wie Samt. „Du weißt, was die Leute sagen, Tavian. Über uns. Über dich.“
Für einen Moment wirkte er so klein, stützte sich gegen das Glas, die Wangen von Erschöpfung und Scham überschattet. „Spielt das eine Rolle?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Vielleicht stimmt es ja.“
Ihre Wut verwandelte sich in etwas Hilfloses, Rohes. Sie trat auf ihn zu, ließ ihre Finger die Linie seines Kiefers nachzeichnen. „Du kannst dich nicht verstecken“, hauchte sie, die Lippen streiften die Ecke seines Mundes. „Ich brauche—“ Doch ihre Worte erstickten, als er sie gegen das Fenster presste, Verzweiflung verdrängte die Angst, seine Hände zitterten, während sie die Knöpfe ihrer Bluse fanden.
Der Atem blieb ihr im Hals stecken. Ihre Münder prallten aufeinander, hart und süß, die Finger unbeholfen vor Verlangen und Zweifel. Ihr Rock fuhr hoch, als sie sich um ihn schlang, die Stadt brannte kalt hinter ihnen, sein Körper glühte an jeder Berührung. Jeder Kuss war eine Frage: Bleibst du, wenn du alles von mir siehst? Jede Antwort ein Ja, ja, bitte—
Sie löste sich, die Brust hob und senkte sich schwer, die Finger vergruben sich in seinem Haar. „Ich will alles vergessen“, flüsterte sie, biss sich so fest auf die Lippe, dass es schmerzte, „nur für jetzt. Nur mit dir.“
Er nickte, erstickt von Sehnsucht und Schuld, die Hände zitternd, als er sie auf den Konferenztisch drückte. Die Welt draußen spielte keine Rolle; die einzige Realität war das Gleiten ihrer Oberschenkel um seine Hüften, sein Mund an ihrer Schulter, ihre Nägel, die Halbmonde in seinen Rücken gruben. Tränen brannten in ihren Augen, sie blinzelte sie weg, starrte auf sein gerötetes Gesicht – so offen, so zerbrochen. Für einen Moment waren sie nur Körper, Verlangen und Hoffnung, keine Verräter, keine Opfer, nicht gebrochen, nicht verfolgt.
Er küsste sie hart, immer wieder, bis die Worte versagten. Sie klammerte sich an ihn, keuchend, ihre Stimme ein roher Schmerz. „Versprich mir, dass wir das überleben.“
Er legte die Stirn an ihre, unfähig zu sprechen, die Wimpern nass. Ihr Herz zerbrach – weil er nicht versprechen konnte. Weil auch er zerbrach.
Plötzlich zerriss ein lautes Klopfen die Stille draußen. Schritte donnerten den Flur entlang. Sie erstarrten, atemlos, halb bekleidet, das Herz schlug ihnen bis zum Hals. Tavians Handy leuchtete auf dem Tisch auf. Eine anonyme Nummer: DER BRUCH WAR NICHT DEINE SCHULD. JEMAND HAT DICH REINGELEGT. TRIFF MICH – ALLEIN.
Lyska starrte auf den leuchtenden Bildschirm, Panik breitete sich aus. Tavians Hand fand ihre, feucht und kalt, während die Schritte näherkamen und direkt vor der Tür stoppten. Schatten zogen unter dem mattierten Glas vorbei. Ein Wort – Verrat – hing zwischen ihnen, pulsierend mit jedem panischen Herzschlag.
Die Türklinke rüttelte.
Fortsetzung folgt...