Kapitel 4
Kas betritt Lumeira, der Regen klebt noch an ihrem Kragen, eine abgewetzte Umhängetasche über der Schulter, und in ihrem Blick liegt die Last von hundert unausgesprochenen Fragen. Ihre Augen sind weit geöffnet, wachsam, springen von Gesicht zu Gesicht – Gavens gezwungenes Lächeln, Rhions steife Haltung, Naelas lauernde Silhouette – sie fangen jede brüchige Spannung ein, die durch das offene Büro pulsiert. Kurz verweilt sie an der Glaswand, die Hände verlegen gefaltet, bevor sie in den Schatten gleitet, sich einfügt, als wäre sie schon immer Teil des Herzschlags der Agentur gewesen.
Rhion, makellos in einem anthrazitfarbenen Anzug, der ihre Schärfe noch unterstreicht, spürt Kas’ Blick auf sich ruhen. Sie verrät nichts – weder das Zucken in ihrem Kiefer noch den flüchtigen Funken Misstrauen in ihren Augen. Stattdessen wendet sie sich an Gaven, der lässig an seinem Stehpult lehnt und einen Stift zwischen den Fingern dreht. „Du hast was für mich?“ fragt sie, die Stimme leise und präzise. Gavens Augen blitzen schelmisch, doch dahinter schimmert etwas Dunkleres. Er beugt sich vor, nah genug, dass sie den Hauch von Aftershave und Verzweiflung riecht.
„Es geht um Cyran“, flüstert Gaven und schiebt sein Handy über den Tisch. „Ich hab was gehört. Belege gesehen. Er ist nicht so unschuldig, wie alle glauben.“ Er beobachtet, wie sie liest, ein zufriedenes Lächeln spielt um seine Lippen, als ihr Gesicht – kaum merklich – Interesse zeigt. Rhions Haltung bleibt unverändert, doch ihr Griff um das Handy wird fester. „Was willst du, Gaven?“ fragt sie leise, und sein Lächeln verrutscht für einen Moment, offenbart die Bitterkeit, die er so mühsam verbirgt.
Unterdessen steht Vessa am Rand des Dachs, vom Nebel dunkles Haar umspielt, die Arme fest vor der Brust verschränkt. Ihre Jacke, hastig über die enganliegenden schwarzen Studio-Klamotten geworfen, schützt kaum vor der Kälte. Cyran findet sie dort, die Hände tief in den Taschen eines Secondhand-Mantels vergraben, die Schultern nach vorn gezogen, das Gesicht blass und von schlaflosen Nächten gezeichnet. Vorsichtig nähert er sich, jeder Schritt bedacht, unsicher. „Du bist nicht zum Kampagnen-Meeting gekommen“, sagt er leise, bemüht, sanft zu klingen.
Sie sieht ihn nicht an. „Ich konnte ihnen nicht ins Gesicht sehen. Mir selbst nicht.“ Ein Zittern liegt in ihrer Stimme – Angst, Scham, die Last, die sie allein trägt. Ihre Finger graben sich in die Arme. Cyran zögert, dann greift er zu, umschließt ihr Handgelenk, der Daumen streicht über ihren Puls. „Vessa, sprich mit mir. Bitte.“ Seine Stimme bebt, ehrlich, durchbricht seine sonstige Zurückhaltung.
Der Regen prasselt stärker, wäscht die Stadt in verschwommenes Neonlicht unter ihnen. „Ich habe dich belogen. Wegen allem. Meiner Schuld, der Erpressung… alles. Mein Ex hat mich ruiniert, dann dieser Kunde – ich dachte, ich krieg das hin, aber ich bin so verdammt verloren“, gesteht sie, das Gesicht verzieht sich. Mascara rinnt über ihre Wangen, roh und ungeschützt. Cyrans Herz bricht sichtbar – weit aufgerissene Augen, Stirn in Falten, die Kiefermuskeln angespannt, während er kämpft, seinen eigenen Schmerz zu verbergen.
Er tritt näher, zieht sie an sich. Vessa wehrt sich, Fäuste gegen seine Brust gepresst, doch dann gibt sie nach, lässt sich an seiner Schulter ausweinen. Cyran vergräbt sein Gesicht in ihrem Haar, atmet sie ein, hält sie fest, als hätte er Angst, sie könnte ihm entgleiten, als könnte seine Umarmung all die Bedrohungen und Schulden wegwischen. „Du bist nicht allein, nicht mehr“, murmelt er heiser, küsst ihre Schläfe, die Wange, die Linie ihres Kiefers – jede Berührung schwer von Verlangen, Vergebung und Hunger.
Vessa neigt den Kopf zurück, sucht in seinen Augen, findet nur Schmerz und unerschütterliche Treue. Ihre Hände verfangen sich in seinem Haar, die Lippen verzweifelt an seinen. Der Kuss ist wild, atemlos, Zähne stoßen zusammen, Regen mischt sich mit Tränen. Sie bewegen sich wie eins, an die Dachkante gepresst, Finger tasten nach Knöpfen und Reißverschlüssen, die Dringlichkeit überrollt die Vernunft. Cyrans Hände gleiten unter ihr Shirt, finden seidenweiche Haut, die vor Verlangen zittert. Sie keucht, als sein Mund ihren Hals entlangstreift – freigelegt, verletzlich, nach Trost dürstend.
Er zieht sie enger, verzweifelt, ihren Schmerz mit Berührung zu tilgen. Sie lässt es zu, wölbt sich in seine Hände, beißt einen Schluchzer zurück, als ihre Körper sich berühren, Wärme zwischen ihnen aufblüht trotz der Kälte. Er ist vorsichtig, ehrfürchtig selbst in seiner Dringlichkeit, murmelt ihren Namen immer wieder, als wäre es das einzige Wort, dem er vertraut. Sie klammert sich an ihn, Nägel graben sich in seinen Rücken, jede Bewegung ein Flehen nach Trost und einer Art Erlösung.
Gemeinsam lösen sie sich auf, Atem vermischt, Herzen hämmern, Körper nass vom Regen. Als es vorbei ist, sinken sie erschöpft aneinander, die Brust hebt und senkt sich. Cyran hält ihr Gesicht, streicht nasse Spuren mit den Daumen weg, flüstert zerbrochene Versprechen – von Sicherheit, davon, sie nie loszulassen.
Unter ihnen flackern die Lichter der Stadt. Über ihnen lässt der Regen nach, nur ihr keuchendes Atmen bleibt. Für einen Moment fühlt es sich an wie Vergebung, wie Hoffnung.
Dann vibriert Vessas Handy in der Jackentasche – eine neue Nachricht mit einem Foto von ihnen, eng umschlungen auf dem Dach, mit Zeitstempel und anonym. Sie blickt zu Cyran, Panik breitet sich in ihren Augen aus. Er sieht zurück, die Erkenntnis trifft ihn – ihr intimster Moment gehört nicht mehr nur ihnen.
Fortsetzung folgt...