Kapitel 6
Havyn steht am Rand der Turnhalle, der Schweiß durchtränkt ihr dunkelblaues Sportshirt, die Hände zu Fäusten geballt. Ihr Kiefer ist angespannt, doch in ihren Augen liegt keine eisige Kälte mehr, sondern ein tobender Wintersturm. Sie wartet auf Calder, doch er kommt zu spät. Die Neuigkeiten haben sich längst verbreitet: Gerüchte, die sich verzerren, Blicke von Mitschülern, die wie Messer durch sie schneiden. Jede Bewegung fühlt sich schwerer an, als wären ihre Glieder mit unsichtbaren Verbänden umwickelt.
Endlich taucht Calder auf, die Haare zerzaust, das Hemd lose und ungebügelt, in seinen Bewegungen liegt eine verzweifelte Ungeschicktheit. Sein Blick trifft den ihren, weicht dann aber schnell ab, unfähig, die Erschöpfung zu verbergen, die sich unter seinen Wangenknochen abzeichnet. „Sorry“, murmelt er und reibt die dunkle Beule an seinen Knöcheln – ein Andenken an den Schlag gegen die Wand der Lehrer-Toilette. Die Schuld lastet schwer unter der Sanftheit seiner Stimme, krümmt seine Haltung nach innen.
„Du solltest zu Hause sein“, flüstert Havyn, doch ihre Stimme klingt sanfter, als sie beabsichtigt. Sie will seinen Drang, sie zu beschützen, hassen, aber noch nie hat sie sich so verletzlich und gleichzeitig erleichtert gefühlt.
Er lacht fast, doch der Ton bricht. „Und dich denen überlassen? Niemals.“
Sie beobachtet seine Hände und erinnert sich daran, wie ihre eigenen Finger einst über seine Haut glitten, versuchten, Wunden zu heilen, die viel tiefer sitzen. Jetzt, als sie die Arme verschränkt, spürt sie ein Zittern – halb Angst, halb Verlangen. Calder streckt die Hand nach ihr aus, zögernd, als könnte jede Bewegung ein Fehler sein. Sie lässt es zu. Ihre Schultern berühren sich, ein zerbrechlicher Anker.
Unterdessen streift Vesya in einem abgetragenen grünen Pullover durch das Auditorium, ihre Locken hastig hochgesteckt, das Gesicht von Nervosität und Entschlossenheit erleuchtet. Ihre Augen schweifen zu den Schatten, suchen nach Gefahren, stets die stille Wächterin. Das Auditorium ist leer, bis auf Kaelun, der in der ersten Reihe zusammengesunken sitzt – tätowierte Arme verschränkt, als hätte er nie etwas ernst genommen. Doch heute Abend ist sein Blick fest und unerschütterlich.
Vesya setzt sich neben ihn, der Rock rutscht unbeholfen an ihren Oberschenkeln hoch. Sie zittert, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie werden ihn zerstören – und Havyn – wenn ich ihnen nicht gebe, was sie wollen.“ Das Eingeständnis schmeckt wie Gift.
Kaelun sieht sie an, dann legt er eine raue, schwielige Hand über ihre. „Lass sie lieber mich holen. Ich fürchte mich nicht vor Geheimnissen – die sind wie Kakerlaken, oder? Wenn man fest genug drauftritt, verschwinden sie.“ Seine Finger drücken, verankern sie im Moment. Vesya stockt der Atem, unsicher, ob es Erleichterung oder Herzschmerz ist.
Sie zieht sich nicht zurück, lässt die Wärme ihren Arm hinaufziehen, verbrennt Schichten, die sie nie jemandem gezeigt hat. Ihr Gespräch wird leiser, Geständnisse flüstern im Halbdunkel: Kaeluns Reue, Vesyas Schmerz, das Gefühl, unsichtbar zu sein. Seine Knöchel streifen ihre Kinnlinie, sein Blick wird weich, doch sie stoppt ihn mit einem zitternden Lachen, die Augen feucht: „Nicht – wenn ich jetzt zerbreche, hör ich nie wieder auf.“
Zurück in der Turnhalle steht Havyn vor der Schule, die Haare streng zurückgebunden, die schwarze Sportjacke bis zum Kinn zugezogen, die Stimme fest, als sie zum ersten Mal öffentlich ihre Geschichte erzählt. Ihr Blick sucht Calder in der Menge – seine stille Unterstützung beruhigt ihre zitternden Hände. Als sie ins Stocken gerät, tritt er vor, ignoriert die Blicke, das Urteil, steht neben ihr, Schulter an Schulter.
Später, in einem dunklen Klassenzimmer, sitzt Calder neben Havyn, sein Daumen streicht über den Handrücken. „Sie können dir jetzt nichts mehr anhaben“, flüstert er, die Stimme erstickt.
Havyn legt die Stirn an seine, Tränen fließen endlich frei. „Sie haben es schon getan. Aber du...“ Der Rest geht im bebenden Schweigen unter.
Auf der anderen Seite des Flurs läuft Vesya auf und ab, das Handy an die Brust gepresst. Eine neue Nachricht blinkt auf dem rissigen Bildschirm auf: ein Foto von ihr und ihrem Ex-Liebhaber, die Drohung unübersehbar. Ihre Hände zittern, während sie es löscht, Entschlossenheit brennt hinter ihren Augen.
Sie trifft Kaelun hinter der Bühne, sucht Trost. Sie reden, Geständnisse werden mutiger, Berührungen verweilen. Er küsst den Handrücken, sanft und ehrfürchtig. Ihre Umarmung ist weder Lust noch Trost, sondern etwas Rohes, zwei Seelen, die alte Rüstungen ablegen für eine lange Nacht.
Der Morgen kommt zu früh. Calder, Havyn und Vesya stehen in einem engen Flur, blass im Gesicht, die Augen gerötet. Die Mitteilung der Schulleitung hängt an der Wand – eine Sondersitzung wurde einberufen. Wenn die Wahrheit jetzt nicht ans Licht kommt, dann nie.
Calder wendet sich an Havyn, die Stimme leise. „Kein Versteckspiel mehr.“
Ein Knacken hallt aus dem Auditorium – Sieras Schrei hallt den Flur entlang. Vesyas Herz bleibt stehen. Sie rennt los, Kaelun dicht hinter ihr, die Welt gerät aus den Fugen.
Fortsetzung folgt...