Kapitel 6
Kael stand am Rand des leeren Verkaufsstands, der Kiefer so fest zusammengepresst, dass die Adern an seinem Hals hervortraten. Die Knöchel so weiß wie die Knochenknöpfe seines dunklen Flanellhemds, der Daumen zeichnete verzweifelte Kreise in das angeschlagene Holz der Theke. Als Irisa eintrat, der regenfeuchte Haar wild um ihr gerötetes Gesicht gewellt, hob er kaum den Blick. Sie verschränkte die Arme – eine geblümte Bluse unter einer abgetragenen Jeansjacke, die Finger zitterten, als sie sie unter die Ellbogen schob. Für einen Moment herrschte Schweigen. Nur Irisas Nerven vibrierten in der angespannten Linie ihres Mundes, die Augen hinter der Fassade funkelnd und rot gerändert.
Er brach das Schweigen, die Stimme tief und rau. „Hattest du jemals vor, es mir zu sagen?“ Sein Blick bohrte sich in sie, suchte nach etwas Weicherem hinter dem aufblitzenden Zorn. Irisa hob trotzig das Kinn, doch ihr Hals zuckte, als sie versuchte, stark zu bleiben.
Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen, obwohl ihre Unterlippe zitterte. „Ich hatte Angst, Kael. Du hast keine Ahnung, wie das ist—“ Ihre Stimme brach, schwankte. Dieser kurze Schimmer von Furcht in ihren grünen Augen löste einen verborgenen Knoten in ihm, doch der Schmerz unter seiner Brust wurde nur schärfer.
Kaels Fäuste zitterten an den Seiten, der Sturm in seinen Augen verdunkelte sich. „Ich brauchte dich. Ich habe dir vertraut.“ Bitter lachte er, fuhr sich durch die Haare, sodass die Strähnen aufstachen und das Zittern offenbarten. „Du hättest mir Jahre des Zweifelns ersparen können. Stattdessen hast du mich im Dunkeln gelassen.“
Diese Worte schnitten tief; Irisas Fassung zerbrach. Sie presste einen Knöchel an den Mund, kämpfte gegen die Tränen. „Ich habe mich jeden einzelnen Tag dafür gehasst, dass ich nichts gesagt habe. Aber ich war so… verdammt allein.“ Ihre Stimme sank, zerbrochen. „Ich wollte dich nie verletzen.“
Er trat näher, unfähig, den Schmerz und die Wut in sich zu bändigen. Für einen Moment strich sein Daumen sanft über ihre Wange – unerwartet zärtlich, raue Haut zeichnete die Spuren ihrer Tränen nach. „Doch du hast es getan.“ Seine Stimme war heiser. „Mehr als jeder andere.“
Draußen blieb Lex stehen. Seine Schürze war mit Mehl bestäubt, die Augen von Wochen voller Sehnsucht und Erschöpfung überschattet. Er sah, wie Irisa zusammensackte, und konnte nicht widerstehen. Leise trat er ein, seine Stimme ein vorsichtiger Balsam. „Irisa, hey. Alles in Ordnung?“ Seine Hand schwebte nahe an ihrem Ellbogen, ohne sie zu berühren. Sie schüttelte zitternd den Kopf, wandte sich dann zu ihm – die Augen flehend, doch ihr Körper neigte sich unbewusst noch immer zu Kael.
Lex’ Kiefer spannte sich, Eifersucht und Sorge kämpften in seinem Blick. „Kael“, sagte er sanft, aber bestimmt, „du kannst doch nicht einfach—“ Doch Kael wirbelte herum, Trauer verwandelte sich in Wut.
„Was willst du, Lex? Willst du sie auch? Willst du der verdammte Retter sein?“ Kael spuckte die Worte aus, sein ganzer Körper angespannt vor kaum gezügelter Gewalt.
Lex ballte die Fäuste, wich aber nicht zurück. „Ich will nur, dass es ihr gut geht. Ich will, dass das hier—“ Er gestikulierte hilflos zwischen ihnen. „—aufhört, alle kaputtzumachen.“
Irisas Augen füllten sich erneut, sie stellte sich zwischen die beiden, die Stimme rau. „Hört auf. Bitte, ich kann nicht—“ Sie erstickte, presste die Handflächen an ihr Gesicht, die Schultern bebten.
Kaels Wut erlosch langsam. Für einen Herzschlag wirkte er verloren – jung, verwundet, die Brust hob und senkte sich im Kampf gegen die Tränen. „Ich habe dich geliebt“, flüsterte er, die Worte aus einer rohen Tiefe gerissen. „Ich liebe dich immer noch. Ich weiß nicht, wie ich aufhören soll.“
Irisa gab ein Geräusch von sich, das wie Kapitulation klang – halb Schluchzen, halb Lachen. Sie trat vor, die Hände zitternd, als sie seine Brust berührte. „Ich habe nie aufgehört, Kael. Ich habe dich nur… immer falsch geliebt.“
Ihre Stirnen berührten sich, die Atemzüge vermischten sich. Zwischen ihnen schmerzte alles – Wut, Schuld und der Funke von etwas Gefährlichem. Kaels Hand glitt in ihr Haar, und für einen Moment schien die Welt sich auf zitternde Münder und ungeklärte Sehnsucht zu verengen. Irisas Lippen öffneten sich, doch sie stockte, zog sich zurück, als hätte sie sich verbrannt.
Im Flur hallten Mykas Schritte. Sie tauchte auf, die Augen scharf, das Handy fest in der Faust. „Ihr müsst das sehen“, zischte sie, die Stimme zitternd. „Renon – er ist im Sicherheitsraum. Er löscht Aufnahmen von der Nacht, als dein Bruder verschwunden ist.“ Ihr Blick huschte zu Kael, dann zu Irisa, Schuld blass auf ihren Wangen.
Kaels Zorn entflammte neu, diesmal mit Zielstrebigkeit – ein zerbrochener, wilder Funke Hoffnung in seinen Augen. Er stürmte an Irisa vorbei, riss die Tür auf, dass sie an den Angeln klapperte.
Lex und Irisa folgten, die Dringlichkeit verbrannte die letzten Reste von Herzschmerz. Das liebeskranke Dreieck löste sich für einen Moment auf in der Jagd. Den Flur hinunter blitzte Renons breiter Rücken zwischen flackernden Lichtern auf. Kaels Schrei hallte wider – roh, verzweifelt, Warnung und Versprechen zugleich.
Die drei stürzten in das Chaos, alte Wunden vergessen im Rennen um die Wahrheit. Niemand wusste, ob auf der anderen Seite der Tür Vergebung oder Untergang wartete.
Fortsetzung folgt…