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Kapitel 6

Die Nachtluft im Personalflügel ist schwer vom Duft schmelzenden Schnees und gebratenem Knoblauch. Maelis steht hinter der Küchentheke, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, ihr schwarzes Haar streng zu einem Knoten gebunden, die Hände bewegen sich mit mechanischer Präzision, während sie Pilze für das späte Abendessen eines Gastes schneidet. Ihr Gesicht bleibt ausdruckslos, eine Maske, die sie seit ihrer Kindheit trägt – nur ihre Augen verraten das Flackern unruhiger Gedanken, während sie durch das schmale Fenster den großen Saal beobachtet.

Lirae schreitet vorbei, das Haar noch feucht vom heißen Bad, die Lippen gerötet, der Kiefer angespannt, ein Handtuch lässig über eine Schulter geworfen, fast wie eine Herausforderung. Kaiden, in einem abgetragenen Flanellhemd und zu weit sitzenden Jeans, stellt sich ihr in den Weg, das Gesicht eingefallen, die Augen von einer Nacht voller Reue gerändert. Er versucht ein schiefes Grinsen, doch es bricht ab, als Liraes Blick auf die Prellung an seinem Schlüsselbein fällt, halb verdeckt vom Kragen seines Hemdes.

Seine Stimme ist leise. „Lirae, warte. Lass mich erklären—“

Sie unterbricht ihn mit einem scharfen, bitteren Lachen, schärfer als das Glas, das sie auf dem Deck zerbrochen hat. „Erklären, was, Kaiden? Dass du deine Versprechen nicht besser halten kannst als deine Hände bei dir?“ Ihre Augen, sonst hell und voller Herausforderung, sind jetzt glasig, die Verletzlichkeit fast zu grell. Sie schiebt sich an ihm vorbei, ihre Hand gleitet seinen Rücken hinab – nicht zärtlich, sondern als Warnung.

Auf der anderen Seite des Flurs verweilt Zira mit einem medizinischen Bericht, das Haar zerzaust, ihre grüne Lodge-Fleecejacke bis zum Hals zugezogen. Das Deckenlicht zeichnet die blauen Flecken unter ihren Augen nach, und als sie Kaiden und Lirae sieht, presst sie die Lippen zu einer dünnen Linie. Sie schließt für einen Moment die Augen, ringt mit dem stechenden Brennen von Eifersucht und der Schuld, die sie nie ganz loslässt.

Das Funkgerät an ihrer Hüfte knistert. „Verletztenmeldung. Hauptdeck. Alle Mann an Deck.“ Sie bewegt sich wie zwischen Feuer und Eis zerrissen – zu schnell, zu angespannt, als wäre körperliche Anstrengung der einzige Weg, dem inneren Konflikt zu entkommen.

Maelis sieht zu, wie Zira verschwindet. Sie kann nicht anders. Sie wischt sich die Hände an der Schürze ab und verlässt die Küche, das leise Scharren ihrer Stiefel das einzige Geräusch, das ihre Anwesenheit verrät. Sie findet Kaiden im Personalspind, der auf sein eigenes Spiegelbild starrt, als könnte es ihm einen Ausweg zeigen. Er blickt auf, erschrocken, doch Maelis’ Offenheit wirkt beruhigend.

„Du fällst auseinander“, sagt sie, die Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Und du reißt alle mit dir runter.“

Kaidens Abwehr bricht zusammen. Er fährt sich unruhig durch das kastanienbraune Haar, die Augen glänzen vor Verzweiflung und Scham. „Ich weiß. Ich will niemanden verletzen. Ich… kann einfach nicht aufhören.“

Maelis mustert ihn – die hängenden Schultern, die nervösen Finger. Etwas in ihr schnellt hervor; das Verlangen, gesehen zu werden, zu zählen, zu fühlen. Sie tritt näher, ihr Gesicht wird zum ersten Mal weich. „Dann lass mich dir helfen. Aber – halt einfach mal den Mund.“

Sie küsst ihn, überrascht beide. Anfangs unbeholfen und zögerlich – Maelis’ Lippen drücken vorsichtig, ihre Finger zittern an seinem Kiefer. Dann gibt Kaiden nach, umschlingt ihre Taille, hält sie fest, als könnte er sonst ertrinken. Maelis löst sich zuerst, keuchend, die Wangen gerötet, der Kiefer fest entschlossen. Sie führt ihn zurück auf eine Bank – ihre Hände suchen unter seinem Hemd nach der Wärme seiner Haut, seine Brust hebt sich unter ihren Handflächen.

Kaidens Hände wandern ihre Wirbelsäule hinauf, prägen sich die Kontur ihres Rückens ein, die exquisite Spannung, an der ihre Kontrolle endlich zerbricht. Maelis atmet zitternd aus, während ihre Körper sich verflechten – das ist anders: nicht verzweifelt, sondern befreiend, etwas, das sie sich nie erlaubt hat. Sie lässt ihn sehen, wie sie zerbricht, lässt sich selbst die Angst und das Verlangen spüren. Ihre Atemzüge vermischen sich, Stimmen verloren im Schweigen zwischen Spinden und Winterluft.

Danach zieht sie sich gerade genug zurück, um ihm in die Augen zu sehen, feuchte Haarsträhnen entkommen ihrem Knoten, die Lippen roh vom Beißen. „Keine Lügen mehr“, flüstert sie. „Nicht mir gegenüber.“

Die Tür schlägt mit einem lauten Knall auf. Zira steht im Türrahmen, die Augen wild und glänzend – ihre Wangen von Schnee gestreift, der Atem keuchend, als wäre sie den ganzen Weg vom Deck gerannt. Ihr Blick fällt auf Kaiden, dann auf Maelis, ihre zerzausten Glieder, die nackte Wahrheit, gemalt in Schweiß und wirrem Haar.

Für einen endlosen Moment spricht niemand. Ziras Schmerz glüht wie Feuer, die Hände zu Fäusten geballt. Sie dreht sich um und knallt die Tür so heftig zu, dass das Echo die Spinde und Maelis’ Knochen erzittern lässt.

Kaiden springt auf, eine Hand hilflos nach ihr ausgestreckt. Maelis lässt sich auf den Boden sinken, die Knie an die Brust gezogen, das Herz hämmert, Angst und Triumph kämpfen unter ihrer Haut.

Ziras Schritte verhallen im Schneesturm, und plötzlich fühlt sich die Lodge leer an – jedes Geheimnis offenbart, jede Wunde weit aufgerissen und roh.

Fortsetzung folgt...

Brüche der Herzenslinie

75%