Kapitel 5
Kaiden steht am Rand des Wanderwegs, die Wangen rot und rau, die Jacke nur so weit geöffnet, dass das ausgebleichte blaue Shirt darunter sichtbar ist. Er wippt von einem Fuß auf den anderen, unruhig und nervös, das Sonnenlicht fängt die ungleichmäßigen Spitzen seiner Haare ein. Lirae zieht ihre Handschuhe fest, ohne ihn anzusehen – ihr Kiefer spannt sich, Entschlossenheit flackert in ihren stürmischen Augen. Sie trägt schwarze Thermoleggings, einen eng anliegenden roten Fleecepullover und Stiefel, die versprechen, dass sie im Handumdrehen einen Berg erklimmen würde, wenn es bedeuten würde, ihn zu schlagen. „Bleib nicht zurück, Aktivitätsleiter“, murmelt sie, die Lippen zu einem herausfordernden Grinsen verzogen.
Er will etwas Schlaues sagen, doch die Erinnerung an ihr nacktes Geständnis – ihr Mund auf seinem, ihre Hände verzweifelt – brennt unter seiner Haut. Stattdessen richtet er den Rucksack auf seinen Schultern, atmet flach, als könnte das die Spannung zwischen ihnen beruhigen. „Wer als Letzter am Grat ankommt, schuldet dem Gewinner alles, was er will“, sagt er, die Stimme zu hell, in der Hoffnung, das Necken verberge, wie sehr er sich nach ihr sehnt.
Sie wirft ihm einen Blick zu, voller dunkler Herausforderung und dem unterschwelligen Schmerz, den sie nicht zugeben will. „Du gibst immer auf, wenn’s schwierig wird“, sagt sie. Er schnaubt, tut so, als würde es ihn nicht treffen. Die anderen – zwei Gäste und Maelis – ziehen voraus, doch in diesem Moment schrumpft die Welt auf die beiden zusammen. Jeder Schritt knirscht, jeder Blick ist eine stumme Provokation. Als Lirae die Führung übernimmt, fällt eine lose Haarsträhne über ihre Wange, und Kaiden beobachtet, wie sie versucht, sie nicht wegzustreichen, als wäre Bedürftigkeit Schwäche.
Weiter hinten schließt sich Maelis Zira an, deren Kapuze tief ins Gesicht gezogen ist, nur die wachsamen Augen blitzen hervor. Ziras Finger krümmen und strecken sich an ihren Seiten. Jedes Mal, wenn Kaiden und Lirae zu laut lachen oder sich an den Schultern berühren, spannt sich Ziras Kiefer, eine feine Sorgenfalte zuckt an ihrem Mundwinkel. Maelis, sonst gefasster als sonst, mustert Zira aufmerksam – ihr Blick ruhig, die Stimme leise und gleichmäßig, als sie fragt: „Hast du letzte Nacht überhaupt geschlafen?“ Zira zuckt mit den Schultern, brüchig. „Brauche ich nicht.“ Maelis’ Hand schwebt nahe an Ziras Ellbogen, berührt ihn aber nie, und für einen kurzen Moment sieht es aus, als würde Zira sich anlehnen – doch sie zieht sich zurück, zieht die Riemen ihres Rucksacks mit plötzlicher Härte straffer.
Der Himmel verdunkelt sich abrupt. Es beginnt zu schneien, nicht sanft – ein Schneefall, der die Orientierung verschwimmen lässt und Geräusche verschluckt. Das Lachen der Gruppe verstummt, ersetzt durch eine unsichere Dringlichkeit. Kaidens Maske fällt, und Lirae sieht seine Angst; etwas in ihr wird weich, und sie stupst seinen Arm an, die Stimme fast sanft. „Hey… keine Panik. Ich hab dich.“ Die Worte hängen schwer in der Luft, schwerer als der Sturm.
Sie verlieren den Weg. Maelis drängt die Gäste weiterzugehen, ihre Stimme unbeugsam, fast scharf. Zira mustert die weiße Leere mit geübtem Blick und lotst sie zu einer kleinen Notunterkunft, halb im Schnee am Waldrand vergraben. Drinnen drücken sich die Körper aneinander, um Wärme zu teilen. Liraes Atem stockt, als Kaiden zittert – er hasst es, stillzustehen, hasst das Gefühl der Hilflosigkeit. Sie zieht ihre äußere Schicht aus, legt sie ihm mit einem rauen „Mach’s nicht komisch“ um die Schultern. Er lacht, doch seine Augen sind feucht.
Später, in der Stille, nachdem alle anderen in erschöpften Schlaf versunken sind, teilen Kaiden und Lirae einen engen Schlafsack. Gliedmaßen verschlungen, Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt, vermischen sich ihre Atemzüge – roh, zögerlich. „Es tut mir leid“, flüstert er. Sie atmet aus, blinzelt die Tränen weg, die sie nie zeigen wollte. Ihre Stirnen berühren sich, die Verlegenheit löst sich, als sie sich näherdrückt, ihr Oberschenkel gleitet zwischen seine, ihre Finger zeichnen die Narbe an seiner Schläfe nach. Der Kuss beginnt quälend langsam – Lippen streifen, ziehen sich zurück, treffen sich wieder, tiefer, ehrlicher. Sie seufzt in seinen Mund, ihre Hand klammert sich an sein Shirt. Kaiden murmelt ihren Namen, und für einen Moment gibt es nur Haut, Wärme und das Zittern des Verlangens, das sie beide verletzt.
Als es vorbei ist, legt Lirae ihren Kopf an seine Brust, die Stimme rau und leise. „Was machen wir da eigentlich?“ Kaiden atmet aus. „Ich weiß es nicht. Aber ich will nicht aufhören.“ Zum ersten Mal rennt sie nicht davon.
Anderswo in der Hütte sitzt Maelis neben Zira, die unsichtbare Muster in die beschlagene Fensterscheibe zeichnet. Die Stille zwischen ihnen ist schwer. Maelis – die Lippen leicht geöffnet, die Stimme zitternd – sagt: „Du bist nicht allein, weißt du.“ Ziras Schultern sinken. Sie lehnt sich vor, die Stirn fast an Maelis’, die Augen weit und ängstlich. „Ich habe Dinge getan, die ich nicht rückgängig machen kann“, gesteht sie, die Stimme kaum mehr als ein Hauch. Maelis nimmt ihre Hand – überrascht von ihrem eigenen Mut – und hält sie fest. Ziras Finger sind eiskalt, doch sie krallen sich fest, als würde Festhalten bedeuten, nicht zu ertrinken.
Als der Sturm nachlässt, treten sie alle hervor, mit Geheimnissen, die hinter ihren Augen brennen. Maelis bleibt in dieser Nacht vor Kaidens Tür stehen, die eigene Scham und Sehnsucht fest umklammernd. Sie hebt die Faust, zögert. Drinnen sind Kaiden und Lirae zum ersten Mal seit Monaten in Schlaf und Sicherheit verstrickt. Maelis senkt die Hand, unsicher, ob das, was sie weiß, sie heilen wird – oder alles zerstört.
Fortsetzung folgt...