Kapitel 6
Callen sitzt am Schreibtischrand, die Hemdsärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, die Krawatte locker um den Hals. Unter seinen Augen zeichnen sich Schatten ab, dieser halbverlorene, von hinten beleuchtete Blick eines Mannes, der langsam zerbricht. Mit dem Daumen reibt er über einen Kaffeefleck auf den Papieren, der Kiefer angespannt, der Kopf voller wirrer Gedanken über die neuesten Schlagzeilen. Odessas Doppelspiel droht ihn zu erdrosseln – ihre Botschaft ist eine samtige Schlinge: Er gehört ihr, ob er will oder nicht.
Odessa tritt ein, der taillierte Blazer halb geöffnet, dunkles Haar fällt in wilden Strähnen um ihre scharfen Wangenknochen. Ihr Blick schweift kurz zur Tür hinter ihr, dann trifft er Callen mit einer Raubtiergelassenheit, die ihm den Rücken erstarren lässt. Sie wirft ihr Handy auf den Schreibtisch; ein leichtes, wissendes Lächeln spielt um ihre Lippen.
„Du siehst aus, als hättest du seit Tagen nicht geschlafen“, sagt sie, ihre Stimme wie Seide über Klingen.
Callens Lachen klingt hohl. „Das würdest du wissen. Du bist mein Schlaflosmacher.“
Sie umkreist ihn, streicht mit den Fingerspitzen über den Nacken, sucht nach dem kleinen Schauer, den er nicht verbergen kann. „Du zerbrichst immer so schön unter Druck.“ Er schweigt; der Kiefer fest, doch sein Wille bröckelt wie eine Mauer im Verfall. Odessa beugt sich vor, ihre Lippen hauchnah an seinem Ohr, flüstert: „Glaubst du, Rysa will dich jetzt noch?“
Seine Augen weichen aus. „Was willst du, Odessa?“
Sie schlüpft zwischen seine Knie, stützt die Hände auf seinen Oberschenkeln, ihr Gesicht so nah, dass er ihre Wimpern zählen könnte. „Ich will dich verzweifelt. Aber vor allem will ich, dass du Angst hast.“ Ihr Kuss ist brutal, kratzt an Verlangen und Strafe. Ihre Hände gleiten unter sein Hemd, die Nägel ziehen über die Haut; er packt ihre Schultern, der Kuss wird gierig, wild, beide stürzen sie in den Kaninchenbau aus Verlangen und Macht. Es ist hektisch, offen, voller Zähne, keuchender Atemzüge und roher, wütender Hingabe – bis sie atemlos sein Ohr beißt und murmelt: „Lächeln für die Kamera, Liebling.“ Ihr Handy fängt das Zittern in seinem Gesicht ein, als ihm klar wird – das ist Erpressung, keine Leidenschaft.
Danach steht Odessa auf, streicht über ihren Rock, wirft einen Blick auf Callens geöffneten Gürtel. „Jeder hat seinen Preis“, schnurrt sie. Er starrt auf den Boden, die Haut brennt vor Scham und einem verdrehten, nachklingenden Schmerz.
Im Flur dahinter läuft Rysa auf und ab, das Haar streng zusammengebunden, die Augen geschwollen von unvergossenen Tränen. Jedes Wort über Callen und Odessa hallt in ihrem Kopf wider. Sie denkt an Odessas Hände – scharf, sicher, unerbittlich – und dann an Callens Mund: wie er ihren Namen sagt, wenn niemand zuhört.
Sie findet Odessa allein im Pausenraum, eine Hand lässig um ein Glas Scotch. Odessas Lippenstift ist verschmiert, das Hemd nicht mehr in der Hose, doch ihr Lächeln ist gefährlich perfekt. „Bist du hier, um zu schimpfen oder zu betteln?“ fragt Odessa.
Rysas Stimme ist leise, flach. „Ich habe aufgehört, dir diese Macht zu geben.“ Sie tritt näher, die Haltung starr, doch darunter vibriert ein Zittern. Odessa mustert sie, stellt dann das Glas ab. Ihre Blicke verhaken sich – Geschichte, Rivalität, Verlangen und etwas Rohes, das unter der Oberfläche lodert.
Rysa beugt sich vor, packt Odessas Kinn, zwingt sie, ihr in die Augen zu sehen. „Du kannst mich nicht brechen und es Fürsorge nennen.“ Ihre Lippen krachen auf Odessas, hart und fordernd, schmecken Bitterkeit und Sehnsucht. Odessa keucht, krallt sich dann zurück, überrascht von dem Aufblitzen – diesmal hat Rysa die Kontrolle. Ihre Körper stoßen zusammen, Hüfte an Hüfte, Rysas Hände drücken Odessa gegen die Theke. Blusen aufgerissen, Haut auf Haut, keuchende Atemzüge, erstickt von hungrigen Mündern – das ist Zurückeroberung, kein Aufgeben. Odessa zuckt bei der Zärtlichkeit in Rysas Berührung zusammen; für einen Moment ist sie nackt, jenseits der Spiele. Rysa zieht sich zurück, der Atem schwer. „Keine Lügen mehr“, fordert sie.
Odessas Augen glänzen, roh. „Es war nicht alles ein Spiel“, flüstert sie, und Rysa will ihr fast glauben.
Woanders sitzt Soren an seinem Schreibtisch, blasse Finger zittern über der Tastatur. Er trägt das Chaos in der gebeugten Haltung, im leeren Blick auf den Bildschirm. Mirelle taucht auf, das Haar vom Regen noch feucht, die Wangen fleckig von alten Tränen. Sie steht im Türrahmen, zögert, dann geht sie zu Soren, die Hände zittern, als sie ihr Handy zwischen sie legt.
„Ich weiß, wer du bist“, sagt sie leise, die Stimme bricht. „Ich weiß, was du getan hast.“ Soren blickt auf, die Augen weit, und zum ersten Mal gibt es keine Maske – nur Angst und Verlangen.
„Ich wollte dir nie wehtun“, sagt er, gebrochen.
„Warum hast du es dann getan?“ Ihre Stimme bricht, doch sie kommt näher.
Sorens Geständnis fließt stockend, verzweifelt. „Sie haben meine Familie bedroht... Ich wollte aufhören, aber—“ Er zittert; Mirelle spürt den Riss in ihm, das Echo ihrer eigenen Angst. Sie greift nach seiner Hand, und er klammert sich an sie, als würde er ertrinken.
„Sag Callen die Wahrheit“, flüstert sie. „Hör auf, dich zu verstecken.“
Später findet Soren Callen allein, noch immer benommen von Odessas Berührung. Er platzt heraus mit der Wahrheit – sein Doppelleben, die Drohungen, die Verrate. „Ich tue alles. Bitte, tu ihr nichts.“
Callens Hände ballen sich zu Fäusten. „Du hast sie kaputtgemacht. Du könntest uns alle kaputtmachen.“ Soren nickt, nimmt sein Schicksal an, Tränen laufen über sein Gesicht.
Im leeren Flur steht Mirelle mit dem Handy, der Finger schwebt über dem Video von Sorens Geständnis. Ihr Herz rast – das könnte ihn zerstören, aber würde es sie befreien? Sie zögert, dann löscht sie die Datei, Tränen rinnen lautlos über ihre Wangen.
Als die Morgendämmerung durch die Jalousien kriecht, prangt eine neue Schlagzeile auf jedem Bildschirm: „BREAKING: Velcroft-Kampagne fälschte Unterlagen – Direktor unter Beschuss.“ Odessas Werk, oder steckt mehr dahinter?
Rysa stürmt in Callens Büro, die Augen wild, die Stimme zitternd – „Du hast mich belogen. Schon wieder.“ Der Raum zwischen ihnen knistert, schmerzt, brodelt vor Wut.
Ihre Welt steht kurz vor der Explosion.
Fortsetzung folgt...