Kapitel 4
Lys schlich durch die oberen Büros des Lagers, gehüllt in schwarzen Seidensatin, die Absätze hallten leise im stillen Raum. Ihr langes Haar war zu einem so straffen Zopf geflochten, dass die Augenwinkel sich kaum merklich hoben – Raubtieraugen, funkelnd vor Berechnung und einem Hauch von verzweifelter Sehnsucht. Ihr roter Mund zuckte, während sie die Einladung betrachtete, die Rivel Sharn unter der Sicherheitstür hindurchgeschoben hatte – eine Herausforderung, eine Drohung, ein Ausweg, wenn sie nur kühn oder gnadenlos genug war. Die Hitze von Zuriels besitzergreifenden Händen brannte noch an ihrem Kiefer, nur Stunden zuvor, und unter dem Satin-Kragen ihres Blazers zeichneten sich blaue Flecken ab, Schatten, die nur sie spüren konnte. Sie legte die Hand darauf, um sich zu sammeln, weigerte sich, die Sehnsucht die goldene Logik schwächen zu lassen, an der sie noch festhielt.
Sie fand ihn – Zuriel – neben dem ramponierten Getränkeautomaten, der ihn mit frustrierter Eleganz trat, als wäre er immer einen Schritt davon entfernt, dazuzugehören. Schweiß glänzte an seinem Kiefer, die dunklen Locken am Nacken zerzaust von zu vielen schlaflosen Nächten. Unter schweren Brauen beobachtete er sie, Eifersucht flackerte roh in seinen Augen, als sie näherkam, als könnte er schon den Geruch eines anderen Mannes zwischen ihrem Parfum und den klaren Linien ihrer Bluse riechen.
„Wo bist du denn abgehauen?“ murmelte er, rau und besitzergreifend. Sie sah ihm trotzig in die Augen, innerlich zitternd, dann zuckte sie mit den Schultern und fuhr mit dem Nagel sanft über den scharfen Knochen seines Kiefers – eine Reizung, die ihn zur Weißglut brachte. Er packte ihr Handgelenk, drückte zu fest, Wut zitterte am Rand seiner Begierde. Sie standen so da – eingefroren – einen Herzschlag zu lang, bevor Lys sich sanft losdrehte, die Lippen zu einem bitteren Lächeln verzogen.
Noch bevor die Spannung zerreißen konnte, stürmte Valein durch das Treppenhaus, ihre mit Farbe bekleckerte Kapuzenjacke über wirrem Haar, die Wangen gerötet von Hoffnung und Nervosität. Sie presste ein zerfleddertes Notizbuch an die Brust, die Augen groß und hungrig, als sie Lys erblickte. „Ich hab dich mit Rivel reden sehen.“ Ihre Stimme brach, sie senkte den Blick, ein blauer Kreidestaubstreifen zog sich über ihren Kiefer. „Gehst du etwa weg?“
Für einen winzigen Moment rutschte Lys’ Maske. Schuld stieg auf, roh und schnell, bevor sie Valeins Blick mit sorgfältiger, distanzierter Freundlichkeit erwiderte. „Jeder geht, Valein. Hast du das nicht längst begriffen?“ Valein zuckte zusammen, die Schultern zogen sich noch tiefer unter der Kapuze zusammen. Die Stille zwischen ihnen schnitt scharf.
Axton verharrte knapp außerhalb des Lichtkegels, makellos im anthrazitfarbenen Anzug, mit absichtlicher Gleichgültigkeit, sein Gesicht undurchschaubar. Er musterte Lys und Valein mit räuberischer Ruhe, die Finger trommelten wie ein Countdown an seinem Arm. Als Valein an ihm vorbeiging, umwehte ihn der Duft von Zitrus und Sprühfarbe, und er schnappte: „Du verschwendest deine Zeit an sie.“
Valein drehte sich um, verletzt, die Augen glänzten vor Tränen. „Zumindest habe ich noch Hoffnung.“ Axtons Mund verzog sich, Bitterkeit wurde weicher, als er sie betrachtete – chaotisch, schön in ihrem gebrochenen Herzen. „Hoffnung? Das ist hier ein Luxus.“ Er streckte die Hand aus, stoppte knapp vor ihrer Wange. Für einen Moment atmeten sie dieselbe Luft, die Spannung vibrierte, sein Daumen streifte fast ihre Haut. Valein blinzelte schnell, die Lippen leicht geöffnet, und für einen Augenblick schrumpfte das ganze Lager auf nichts als Verlangen und Zerfall zwischen ihnen.
Doch Lys war längst verschwunden, glitt atemlos und panisch in den dunklen Flur. Rivel wartete schon, lehnte lässig am zerbrochenen Fenster, die Hüfte selbstbewusst gekippt, ein silberner Ring funkelte an seinem Knöchel. „Na?“ schnurrte er. „Bereit, deine Seite zu wählen?“ Lys funkelte ihn an, jeder Muskel angespannt. „Tu nicht so, als ob es dir wichtig wäre.“ Trotzdem schwebte ihre Hand über dem Umschlag, den er ihr hinhielt – Versprechen und Drohung, Freiheit verknüpft mit Verrat.
Zuriel stürmte herein, die Fäuste geballt, die Augen wild vor Schmerz und Vorwurf. „Du verrätst uns?“ Seine Stimme brach, verwundet und roh, die Maske des Hafenmeisters fiel ab und offenbarte etwas Verängstigtes, fast Jungenhaftes. Lys schloss die Augen, kämpfte gegen die Tränen. „Ich tue nur, was ich tun muss,“ flüsterte sie, die Stimme zitternd, aber fest.
Rivels Lachen schnitt durch die Stille. „Tick-tack, Liebling,“ spottete er, drückte ihr das Ultimatum in die Hand, bevor er in die Dunkelheit entschwand. Lys starrte auf den Umschlag, Scham und Hoffnung kämpften hinter ihren Augen, während Zuriel zerbrochen zusah. Die Luft knisterte vor dem, was kommen könnte – Entscheidung oder Katastrophe – keiner von ihnen rührte sich, als die Uhr über der Bürotür Mitternacht schlug.
Fortsetzung folgt...