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Kapitel 8

Lera steht am Rand des Dachlofts, das Haar zu einem lässigen Knoten gebunden, das Seidenkleid noch zerknittert von der Nacht, die sich gerade aufgelöst hat. Ihre High Heels baumeln in einer Hand, die nackten Füße drücken sich gegen den kalten Beton. Sie spürt ihren Puls im Hals pochen, ein Nachbeben jeder Entscheidung, die ihre Mauern zum Einsturz gebracht hat. Ithran taucht in ihrem Blickfeld auf, dunkle Locken fallen ihm in die Augen, die Jeansjacke über einem ausgewaschenen schwarzen Shirt – er sieht erschöpft aus, lebendig und gefährlich zugleich. Seine Kamera hängt schlaff um den Hals, heute kein Schutzschild, sondern ein Geständnis.

Zuerst sagen sie nichts. Er lehnt sich an das Geländer, nah, aber ohne sie zu berühren, der Atem stockt, während er ihr Profil mustert. Leras Lippen öffnen sich, als wolle sie tadeln oder verführen, doch alles, was sie hervorbringt, ist ein müdes, geflüstertes: „Bring mich nicht dazu, das zu bereuen.“

Ithrans Finger zittern, als er nach ihrer Hand greift, mit dem Daumen einen Halbmond auf ihrem Handgelenk zeichnet. „Ich hätte dir die Wahrheit sagen sollen. Ich bin weggelaufen, weil ich das Leben meines Bruders zerstört habe, Lera. Ich habe die Schuld auf mich genommen, aber sie gehört mir – du verdienst die echte Version.“ Seine Stimme klingt rau, zerrissen von Wochen voller Schuld und Sehnsucht, die Augen glänzen im Halbdunkel. Er wartet, den Kopf geneigt, sucht nach einem Anflug von Ekel oder Ablehnung. Stattdessen dreht sich Lera ganz zu ihm, die Mascara verschmiert, das Kinn trotzig erhoben. Sie drückt seine Hand, bis die Knöchel weiß werden. „Wir sind hier alle Scherben“, murmelt sie. „Deshalb will ich dich. Nicht die perfekte Version – die, die blutet wie ich.“

Unter ihnen dringt leise Musik herauf – Rhysant steht am Treppenaufgang, trägt den zerknitterten Anzug von gestern, die Krawatte lose, der Kiefer von Stoppeln beschattet. Er wirft einen Blick zur Dachluke, zögert. Sidelle steht neben ihm, die Haare zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden, das weiße Hemd oberhalb der Taille geknotet. Ihr Blick ist misstrauisch, ausgehöhlt von Geheimnissen und schlaflosen Nächten. Rhysants Arm streift Sidelles, als er ihr einen zerfledderten Umschlag reicht, die Stimme leise: „Der Laden gehört wieder dir. Verschwende ihn nicht.“ Sie starrt auf seine Hand, als könnte sie gleich verschwinden. „Warum hilfst du mir?“ zischt sie, Trotz kaum verhüllte Hoffnung. Rhysant zuckt mit den Schultern, die Augen müde, aber weich. „Wir haben alle Mist gebaut. Dann können wir auch neu anfangen.“ Sidelle schluckt schwer, der Kiefer angespannt, und sieht diesmal nicht weg.

Die vier versammeln sich am Rand des Dachs – die Stadt summt unter ihnen, die Sonne glüht am Horizont. Ithran legt den Arm um Leras Taille, unsicher zuerst, dann fester, als sie sich mit einem wackeligen, ungeschützten Lachen zurücklehnt. Rhysant bleibt neben Sidelle, in sicherer Distanz, den Blick auf die Skyline gerichtet, doch seine Hand schwebt in ihrer – ein stiller Friedensgruß.

Lera schließt die Augen, als Ithran ihr einen Kuss auf die Schläfe drückt, vorsichtig, ehrfürchtig, schmeckt nach Salz und Vergebung. Sie lässt sich ein wenig fallen, gerade genug. Zum ersten Mal wird ihre Haltung weich; die alte Rüstung fällt ab, während sie sich mit zitternden Fingern an ihn klammert. „Verschwinde nicht von mir“, haucht sie. Ithran lächelt, und zum ersten Mal ist es echt, die wolfsgleiche Schärfe geschmolzen zu etwas Zerbrochenem und Wahrem. „Nicht, wenn du mich bittest zu bleiben.“

Sidelle starrt auf die Stadt hinaus, die Lippen leicht geöffnet, als wolle sie sich entschuldigen – doch keine Worte kommen. Stattdessen streicht Rhysants Daumen über ihre Knöchel; ihre Augen suchen seine, finden keine Bosheit, nur eine zerfurchte Art von Anmut. Sie lächelt nicht, aber sie zieht sich auch nicht zurück.

Der Sonnenaufgang taucht ihre Gesichter in Gold, und für einen Moment lösen sich die blauen Flecken und der bittere Geschmack in der Stille auf. Sie stehen zusammen – berührend, schmerzend, noch nicht ganz heil, aber sie wählen einander trotzdem. Unten erwacht die Stadt mit einem Grollen. Oben verflechten sich ihre Atemzüge im rosaroten Raum zwischen Hoffnung und Geschichte. Niemand wagt, von für immer zu sprechen. Aber als Leras Hand Ithrans findet und Sidelle neben Rhysant endlich durchatmet, reicht das.

Puls zwischen Wänden

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