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Kapitel 2

Selenes Lippen zitterten, als sie die Nachricht ihrer Mutter noch einmal las, den Daumen fest aufs Handy gepresst. Vergiss nicht, warum du hier bist. Die Worte klebten an jeder ihrer Bewegungen, während sie durch die Flure von Linvale schwebte, ihr blass-leinenes Kleid streifte ihre Knie, das Haar zu einem lockeren, hoffnungsvollen Knoten zurückgebunden – als würde irgendwo auf Magie gewartet. Sie steckte das Handy weg und ließ sich für einen Moment in einen Sommer träumen, in dem sie keine Spionin war.

Sie fand Jorell in der Nordgalerie, allein, die Ärmel bis zum Ellbogen hochgekrempelt, die Augen zusammengekniffen vor Konzentration über einer Reihe filigraner Fliesen, die fächerförmig auf dem samtbezogenen Tisch lagen. Seine schwarzen Locken fielen ihm in die Stirn, der Kiefer arbeitete still vor Frust, der Mund zog sich nach unten, während er Fehler katalogisierte, die nur er sehen konnte. Selene blieb am Türrahmen stehen, zögernd, etwas in seiner obsessiven Intensität war zugleich beängstigend und unwiderstehlich.

Er blickte auf. Sein Blick traf sie, wach und schmerzlich, eine halbe Sekunde zu lang, bevor seine Maske klickte. „Selene. Du bist früh.“ Er richtete sich auf, strich unsichtbare Falten aus seiner anthrazitfarbenen Weste, doch seine Hände zitterten – und sie sah es.

„Ich konnte nicht schlafen“, sagte sie fast schüchtern, die Augen blieben an dem Sternbild aus Sommersprossen an seinem Schlüsselbein hängen, freigelegt durch den offenen obersten Knopf. „Ich wollte die Mosaike vor der Sitzung sehen.“ Ihre Worte waren dünne Schleier, die Luft schwer von dem, was keiner auszusprechen wagte – das Verlangen, die gefährliche Erkenntnis, das Geheimnis, das Selene hinter jedem Lächeln verbarg.

Bevor sie ausatmen konnte, stürmte Vyra herein – die Absätze schlugen scharf, die Seidenbluse makellos, die Lippen in der Farbe frischer Blutergüsse geschminkt. Sie legte die Hände auf Jorells Schultern, besitzergreifend, die perfekt manikürten Nägel kaum spürbar auf seiner Haut. „Du solltest den Vorschlag des Spenders prüfen“, erinnerte Vyra mit eisiger Stimme. Ihr Blick glitt über Selene, eine kühle Einschätzung, die tiefer schnitt als jede Beleidigung. „Oder warst du abgelenkt?“

Jorells Fassade riss für einen Moment, ein Muskel zuckte an seinem Kiefer. Er löste sich aus Vyras Griff, aber nicht ganz. „Wir sehen uns das nach der Sitzung an“, sagte er mit gezwungener Ruhe. Selene presste die Hände hinter dem Rücken zusammen, wollte unsichtbar sein, die Hitze kroch ihr den Hals hinauf. Vyra blieb stehen, die Augen hart, dann stapfte sie davon, die Absätze hallten wie eine Drohung nach.

Später, im Dachgarten, tauchte die Dämmerung Selene in goldenes Licht, während sie sich an das Geländer lehnte und den Saum ihres Kleides drehte. Jorell fand sie dort, außer Atem von schnellen Schritten, die Krawatte abgelegt, das Hemd am Kragen geöffnet. Für einen Herzschlag schwiegen sie beide. Der Schmerz zwischen ihnen war lebendig. Sie sah es daran, wie sein Blick auf ihren Lippen verweilte, an der Spannung, die seine Schultern verkrampfen ließ.

„Sie gehört nicht dir“, flüsterte Selene und überraschte sich selbst. Ihre Finger strichen zaghaft, zögernd über seine, dann wagten sie es, sich zu verschlingen. Jorells Hand war rau, zitternd. Er zog sie näher, suchte in ihren Augen nach etwas Echtem, etwas, das sie beide retten konnte.

Langsam beugte er sich vor, gab ihr Zeit zu fliehen, doch Selene blieb standhaft. Ihre Münder trafen sich – dringend, schmerzlich, verzweifelt. Ihr Rücken stieß gegen den steinernen Sims, die Hände ballten sich in Jorells Hemd. Seine Hand strich die Linie ihrer Taille entlang, der Daumen kreiste in der Mulde ihres Rückens, hauchte ihren Namen auf ihre Haut.

Ihre Küsse waren wild, die Zähne kratzten, jede Berührung ein Geständnis. Jorells Atem war rau, sein Verlangen fast gewalttätig, doch seine Sanftheit siegte – er löste den Kuss nur, um die Stirn an ihre zu pressen, und sie spürte das Zittern, das durch ihn lief. „Du machst es unmöglich, so zu bleiben wie vorher“, flüsterte er, die Stimme rau.

Selene lächelte, Tränen brannten, sie wollte, dass dieser Moment bleibt, dass er mehr bedeutet als die Drohungen ihrer Familie. Ihre Hände hoben sich, um sein Kinn zu umfassen, genossen die raue Stoppel, die Hitze unter seiner Haut. Die Welt verschwand – bis sich am anderen Ende der Terrasse ein Schatten regte.

Vyra stand da, die Arme verschränkt, das Gesicht bleich und angespannt vor Wut. Sie beobachtete sie, regungslos, ein Schmerz flackerte in ihren Augen, bevor sich ein spöttisches Lächeln auf ihre Lippen schlich. Selenes Herz sackte zusammen, Schuld durchflutete jeden Nerv. In der Stille zog Vyra ihr Handy hervor, die Finger bereit.

Sie tippte eine Nachricht. Abschicken.

Irgendwo vibrierte Selenes eigenes Handy in ihrer Tasche. Sie wagte nicht zu schauen, doch die Wahrheit wartete auf sie – unaufhaltsam, sich entwirrend.

Fortsetzung folgt...

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