Kapitel 1
Jorells Hände bewegen sich mit ehrfürchtiger Präzision, die Fingerspitzen streifen über das kühle, geschwungene Porzellan, das im zerbrochenen Goldlicht der Bibliothek schimmert. Sein Mantel – schwarz, perfekt geschnitten – spannt sich über die Schultern, als er die zerbrechliche Büste hebt, um die feinen Haarrisse zu prüfen. Ein Atemzug bleibt in der Nähe der Regale hängen, leise und scharf. Er dreht sich um, der Kiefer angespannt, doch seine Augen weiten sich roh, als er sie sieht.
Selene steht halb im Schatten, ihr lockerer Cardigan rutscht von einem nackten Arm, das Haar fällt rebellisch weich über ihre Wange. Sie umklammert einen Stapel alter Gedichtbände, so fest, dass ihre Knöchel weiß werden. Ihr Blick wandert zwischen der Skulptur und seinem Gesicht hin und her – dunkle Augen, warm vor Neugier, Lippen leicht geöffnet, als würde sie ein Geheimnis bewahren. Sie atmet langsam und zitternd ein und tritt tiefer in das Dämmerlicht, die Zehen kaum hörbar auf dem Parkett.
Ihre Blicke verhaken sich. Die Stille pulsiert – jeder Herzschlag klingt unendlich laut. Jorell kann nicht wegsehen, als Selene ihre Bücher ablegt, die Finger zittern, und langsam näherkommt. Er streckt die Hand aus, eine unbewusste Bitte, und sie zögert, gibt dann nach, gleitet mit der Hand über seine. Ihre Haut ist kühl und unfassbar weich, die Berührung schickt einen Schauer durch beide. Sie teilen einen Atemzug, ihre Gesichter so nah, dass er das Zittern ihrer Wimpern sieht, den kaum wahrnehmbaren Glanz auf ihrer Unterlippe.
„Die Leute wollen immer die zerbrechlichen Dinge berühren“, flüstert sie, die Stimme schwankend zwischen Lachen und Geständnis. Jorells Daumen streicht absichtlich, besitzergreifend über ihr Handgelenk. „Manches“, murmelt er, „zerbricht, wenn man zu genau hinsieht.“ Plötzlich flammt Hitze auf, als sein Daumen langsam, hypnotisch kreist – ein Versprechen.
Zwischen ihnen glitzert eine Porzellanfigur. Selenes freie Hand schwebt nervös darüber. Er führt sie – seine Hand auf ihrer, ihre Körper streifen sich, während sie den richtigen Druck, den behutsamen Griff lernt. Die Spannung knistert; Jorells Atem streicht an ihrem Ohr vorbei, Selene erzittert, die Brust hebt sich, während ihr Cardigan weiter rutscht. Ihr Blick wandert zu seinem Mund; Verlangen und Angst kämpfen in ihrem Gesicht. In diesem Schweigen schrumpft die Welt auf ihre Hände, ihre Körper, ihr Verlangen.
Jorells Kontrolle wankt – sein Mund streift ihre Schläfe, der Atem heiß, wie ein Geständnis. Selenes Lippen öffnen sich, sein Name entweicht ihr leise, als wäre er verboten. Seine Finger krallen sich verzweifelt und unsicher in ihre Taille. Die Bibliothek scheint um sie herum zu pulsieren, jeder Schatten drängt sie näher zusammen. Sie küsst ihn fast – fast –, doch zieht sich zurück, die Augen weit vor Panik und Sehnsucht. Er sucht ihr Gesicht, voller Schmerz, doch der Moment zerbricht, als ihr Handy in der Tasche vibriert.
Selene reißt sich los, die Augen huschen umher. Sie tastet nach dem Telefon, der Atem keucht, die Wangen glühen. Jorell steht wie erstarrt, die Brust hebt und senkt sich, jeder Muskel gespannt vor Verlangen und Bedauern. Sie blickt auf den Bildschirm – ihr ganzer Körper erstarrt, die Schultern ziehen sich zusammen, als hätte sie einen Schlag bekommen. Er tritt näher, die Stimme ein Flüstern. „Selene…“ Ihre Blicke treffen sich – Tränen schimmern, flehen ihn an, nicht zu fragen.
Sie weicht zurück, das Haar fällt vor ihr Gesicht, um es zu verbergen. „Ich—ich muss gehen“, stammelt sie, sammelt zitternd ihre Bücher und flieht aus der Bibliothek, den Duft von Lavendel und den Hauch ihrer Berührung zurücklassend.
Jorell steht im zerstreuten Licht, die Faust an die Lippen gepresst, als könnte er all das unausgesprochene Verlangen darin festhalten.
Draußen starrt Selene auf ihr Handy, die Nachricht brennt sich in ihre Netzhaut: Vergiss nicht, warum du hier bist.
Fortsetzung folgt...