Kapitel 8
Der Morgen bricht kalt und unruhig an, das Dach noch nass vom Regen der letzten Nacht. Vessa ist die Erste, die ankommt, der Kiefer angespannt, die Finger zittern, während sie eine Zigarette anzündet. Ihr rotes Kleid – zerknittert vom Schlaf und wildem Zorn – klebt an ihr, der Träger rutscht von einer sonnengebräunten Schulter. Sie geht auf und ab, die Augen immer wieder zur Tür, dann zum Abgrund gerichtet. Die Stadt unter ihr verschwimmt zu einem Grau-Gold-Fleck. Sie zerdrückt die Zigarette unter der Ferse, die Zähne beißen sich in die Lippe, als wollte sie all das zurückhalten, was sie noch nicht aussprechen kann.
Cyran tritt als Nächster heraus, die Kapuze seines Hoodies fest zugezogen, die Fäuste tief in den Taschen seiner ausgewaschenen Jeans vergraben. Schatten legen sich wie blaue Flecken unter seine Augen. Er bewegt sich langsam, gequält, doch sein Blick findet sofort Vessa. Er saugt die Neigung ihres Kinns in sich auf, die Art, wie sie seinem Blick ausweicht – in ihm dreht sich alles vor Verlangen und Angst. Er will sprechen, zu ihr laufen, doch seine eigene Scham klebt wie Zement an seinen Füßen.
Rhion folgt, jede Linie ihres Anzugs sitzt perfekt – der marineblaue Blazer gebügelt, die maßgeschneiderte Hose ohne eine Falte. Ihr Haar ist zu einem so straffen Knoten gebunden, dass ihre Züge scharf wie eine Klinge wirken. Sie sieht die anderen nicht an, nur den Horizont, die Arme verschränkt, die Nägel graben sich in ihre Oberarme. Ein Muskel zuckt in ihrem Kiefer, als Gaven hinter ihr hereinstürmt, wildäugig, das Handy wie eine Granate umklammernd.
Naela taucht auf, eisig in ihrem Schritt, das Telefon klingelt schon, die Absätze klacken, bis sie mitten im Kreis stehenbleibt. Kas schlüpft leise durch die Treppentür hinter ihr, und plötzlich sind alle da – nur die Wahrheit fehlt.
Für einen Moment rührt sich niemand. Cyrans Herzschlag donnert in seinen Ohren. Dann ein Ping: Kas’ Handy vibriert laut und grausam in der Stille. Alle Blicke richten sich auf sie. Kas’ Mund bewegt sich, als wolle er ein Geständnis formen, bevor die Worte endlich stolpernd herauskommen. „Ich war’s“, hauchen sie, die Stimme klein. „Ich habe die Nachrichten geschickt. Ich… ich musste, dass jemand sieht, was wirklich passiert.“ Ihre Hände zittern, die Schultern hängen, die Augen glänzen vor einer Mischung aus Hoffnung und Angst.
Vessas Atem stockt. „Warum solltest du—?“ Ihre Stimme bricht, roh wie eine Wunde. Kas trifft ihren Blick und weicht nicht aus. „Weil ich, wenn ich nicht reparieren konnte, was ich sah, nicht zulassen wollte, dass es mich still zerstört.“ Schweigen breitet sich aus. Gavens Lippe kräuselt sich vor Unglauben, doch Rhions Gesicht ist aus Stein gemeißelt, unergründlich.
Naela tritt vor, den Kopf erhoben, die Stimme scharf wie ein Skalpell. „Das endet jetzt. Wir alle haben etwas zu verlieren. Also Schluss mit den Geheimnissen – es sei denn, jemand will sich weiter öffentlich zerreißen lassen.“ Ihr Blick fegt über die Gruppe. Die Zukunft der Agentur hängt in der Spannung ihrer Worte.
Cyrans Brust zieht sich zusammen; Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Er sieht, wie Vessa ihn beobachtet, wartet, vielleicht hofft, vielleicht verachtet. „Ich bin dran“, flüstert er, die Stimme zitternd, aber entschlossen. „Ich habe gelogen. Ich habe Drohungen vertuscht, Angst mein Leben bestimmen lassen. Aber jetzt ist Schluss.“ Er sieht Vessa direkt an. „Ich liebe dich. Ich vergebe dir. Und ich brauche, dass du mir auch vergibst.“ Für einen Herzschlag steht die Zeit still – sie schwankt, als könnten seine Worte sie über den Rand treiben.
Rhion, mit brüchiger Stimme, tritt aus dem Kreis zurück. „Ich habe Kampagnen manipuliert. Ich habe euch alle sabotiert – und es war nicht genug. Ich dachte, ich könnte alles kontrollieren, aber ich habe nie etwas Echtes gefühlt – bis jetzt.“ Ihr Atem stockt. „Es tut mir leid“, sagt sie, Verzweiflung sickert durch die Risse.
Gaven spuckt ein bitteres Lachen aus, drückt Naela sein Handy in die Hand. „Wusstest du davon? Die ganze Zeit?“ Naela starrt ihn nur an, still und unbeirrbar, und er lässt die Luft aus sich entweichen, die Wut versiegt ins Nichts.
Der Kreis zerbricht. Rhion zieht ihren Blazer aus, Tränen stehen an ihren Wimpern. Sie wirkt winzig, zerbrechlich.
Vessa wendet sich Cyran zu. Er greift sanft, unsicher nach ihrer Hand, und als sich ihre Finger berühren, scheint die Zeit Jahre zurückzudrehen. Sie schluckt schwer, Mascara verschmiert von Regen und Tränen, und legt die Hand auf seine Brust. „Ich kann kein Für-immer versprechen“, flüstert sie, die Stimme kaum mehr als ein Zittern, „aber ich kann dir jetzt versprechen.“ Er nickt, die Augen glänzen.
Die anderen lösen sich auf – Rhion, die im Kalten zerbricht, ist die Erste, ihre Schritte scharf und einsam. Kas folgt, wirft einen Blick zurück, das Gesicht von Hoffnung und Reue durchflutet. Naela bleibt zuletzt, ihre Silhouette so wild wie die Sonne, die über die Skyline kriecht.
Vessa und Cyran sind endlich allein. Er umfasst ihr Kinn, die Finger zittern; sie lehnt sich in seine Berührung. Ihre Küsse schmecken nach Salz – Tränen und Schweiß und der unmöglichen Erleichterung des Überlebens. Sie ziehen sich in die entlegenste Ecke des Dachs zurück, die Kleidung fällt in dringlicher Stille. Sein Mund findet die Vertiefung an ihrem Hals; ihre Hände verfangen sich in seinem Haar. Ihre Körper pressen sich zusammen – Haut, Hitze, der rohe Rand von allem, was sie fast verloren hätten.
Sie haucht seinen Namen, als er in sie sinkt, klammert sich an ihn. Er vergräbt sein Gesicht in ihrem Nacken, die Welt schrumpft auf den Schock der Nähe, das Zittern ihrer Atemzüge. Nichts ist sanft in der Art, wie sie sich nehmen – verletzend, verzweifelt, Finger graben sich, Glieder verheddern sich. Doch als sie endlich stillstehen, erschöpft und zitternd, scheint etwas in ihnen beiden neu geboren.
Er streicht ihr Haar aus dem Gesicht, die Stirn an ihre gelehnt. „Wir haben es überlebt“, haucht er. Sie lächelt, verletzt und neu. Licht flutet über sie, warm und unsicher, während irgendwo unten die Agentur erwacht – oder zerfällt.
Vessa schmiegt sich an Cyrans nackte Brust, die Augen schließen sich, während die Stadt erwacht. Sein Arm legt sich fest und behutsam um sie, und für einen unmöglichen Moment denken sie beide nicht an das, was noch kommt. Die Zukunft ist eine offene Wunde, doch im Schweigen zwischen den Herzschlägen sind sie ehrlich – und das reicht.