Kapitel 2
Calder lehnt am Bürofenster, die Ärmel hochgekrempelt, die Augen von Schatten umspielt, starrt durch die Scheibe auf die vorbeiziehenden Schüler unten – nur Farben und Bewegungen, verschwommen vom Nebel in seinem Kopf. Sein Hemd klebt am Kragen, Schweiß vom Stress, nicht von der Hitze. Mit zitternder Hand fährt er sich durchs Haar, versucht, nicht zu sehen, wie hohl er im Spiegelbild wirkt. In seiner Tasche brennt der anonyme Zettel. Er kann nicht schlafen, nicht essen, kann nicht aufhören, das Chaos immer wieder durchzuspielen, das er schon angerichtet hat. Kaum bemerkt er, wie die Tür zur Turnhalle hinter ihm quietscht.
Havyn steht im Türrahmen, die Arme verschränkt in ihrer dunkelblauen Trainingsjacke, schwarze Leggings schmiegen sich an ihre schlanken, muskulösen Beine. Ihr Gesicht wirkt scharf im fahlen Neonlicht – ausgeprägte Wangenknochen, stürmische Augen, wachsam und doch unruhig. Sie sieht ihn einen Moment länger an, als sie sollte, der Kiefer angespannt. „Du siehst aus, als hättest du die Hölle hinter dir“, sagt sie, doch ihre Stimme klingt sanfter als die Worte. Zum ersten Mal bleibt sie stehen, bleibt bei ihm, statt nur am Rand vorbeizugehen. Calder versucht zu lächeln, doch es ist dünn, vertieft nur die Linien um seinen Mund. „Harze Nacht“, bringt er hervor.
Sie rührt sich nicht, und er fragt sich, ob sie darauf wartet, dass er um Hilfe bittet. Stattdessen tritt Havyn näher, setzt sich neben ihn auf die Kante einer leeren Bank, ihre Knie berühren sich. Die Berührung schickt einen leisen Stromstoß durch ihn. Ihre Hände, rau und von alten Narben gezeichnet, liegen offen auf ihren Oberschenkeln. „Willst du manchmal einfach für eine Weile verschwinden?“ fragt sie leise, vorsichtig. Calder wagt einen Blick zu ihr – da ist etwas Zerbrochenes in ihrem Blick, ein Schimmer von Verletzlichkeit unter der harten Schale. Er nickt, und die gemeinsame Stille wird dichter, wortlose Geständnisse schweben in der Luft.
Später schlendern sie zum Schwimmbecken, das Wasser kühl und glatt unter dem blassen blauen Licht. Havyn zieht die Schuhe aus, setzt sich ans Beckenrand und lässt die Füße baumeln. Sie löst ihr Haar, dunkle Strähnen fallen über die Schultern – ein Schutzschild oder vielleicht eine Einladung. Calder zögert, setzt sich dann neben sie, die Jeans hochgekrempelt über den Knöcheln, die Zehen wirbeln neben ihren. Ihre Schultern berühren sich; die Berührung ist zufällig, doch keiner zieht sich zurück. Er riecht den leichten Duft von Schweiß und Shampoo, eine Nähe, die gefährlich wirkt.
Er bricht das Schweigen. „Als ich Sozialarbeiter war, dachte ich, ich könnte alle retten“, murmelt er, die Stimme fast vom Wasserhall verschluckt. Havyn schaut zu ihm, ihre Augen werden weich. „Hast du es geschafft?“ fragt sie. Er schüttelt den Kopf, Scham flackert auf. „Nicht mal annähernd.“ Einen Moment lang sagt keiner etwas. Sie streckt die Hand aus, schwebt über seinen blauen Knöcheln. „Wie hast du die bekommen?“ fragt sie leise. Er zuckt mit den Schultern, versucht das Zittern in den Fingern zu verbergen. „Ich hab die Beherrschung verloren. Bin nicht stolz drauf.“
Mit überraschender Sorgfalt zieht Havyn eine Mullbinde aus der Tasche ihrer Trainingsjacke und reißt ein Stück ab. Langsam wickelt sie seine Knöchel ein, die Fingerspitzen streifen kaum seine Haut – eine federleichte Berührung, die ihm den Atem stocken lässt. Ihre Hände sind ruhig, doch ihr Puls hämmert sichtbar in ihrem Hals. Er beobachtet sie, prägt sich ein, wie ihre Wimpern gegen die Wange schlagen, während sie arbeitet. Ihr Daumen fährt die Kurve seines Handgelenks entlang, verweilt eine Sekunde zu lang.
„Danke“, flüstert er, meint nicht nur den Verband. Ihre Gesichter sind nah – sein Atem streift das Haar an ihrer Schläfe. Havyn zögert, lehnt sich dann ganz leicht in seinen Raum. Das Verlangen zwischen ihnen ist greifbar, dick wie Honig in der Luft. „Du musst nicht alle retten“, sagt sie leise, fast flehend. Für einen winzigen Moment will Calder ihr glauben. Er will, dass sie ihn aufbricht.
Ein Geräusch reißt sie auseinander – das Echo jugendlicher Stimmen, Schritte im Flur. Calder zieht die Hand zurück, Schuld und Sehnsucht verheddern sich unter seiner Haut. Havyn erstarrt, die Maske fällt zurück, doch der Schmerz in ihren Augen bleibt. Sie schnappt ihre Schuhe, steht auf und streift an ihm vorbei, die Finger streifen seine Schulter – eine Berührung, die sagt, was Worte nicht können. „Pass auf dich auf, Calder.“
Er bleibt allein am Beckenrand zurück, die Knöchel verbunden, das Herz zerschlagen und brennend. Als er aufsteht, findet er einen gefalteten Zettel in seinem Schuh. Eine Zeile, krakelig geschrieben: Ich weiß, wen du beschützt.
Fortsetzung folgt...